Inge Lemme

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Er war ein fröhlicher Junge. Er konnte schwimmen, im Wasser war er immer zuhause. Bis, zur Armee wollte er nicht, ne, wollte er nicht. Hätte er vielleicht zur Bautruppe oder wie das damals hieß, gehen müssen. Wir haben unsere Arbeit gehabt, er ist dahingegangen nach Schwerin, in Schwerin war das ja, das wissen Sie ja sicher auch. Und dann ist das, hat das alles so seinen Lauf genommen. Acht Monate hatte er rum und da kam er eines Sonntags, wir waren beim Essen, mit der Taxe von Wittenberge nach Hause und das hatte er schon öfter gemacht. Und zu um zehn wollte er wieder zurückfahren. Und um achtzehn Uhr sind sie dann bei uns schon gekommen und da haben sie ihn gesucht, in Schwerin, da wo er denn nach, sechzehn Monate ab, das war ja, wo war denn das? In, bei Schwerin war das, nicht, ich weiß doch gar nicht mehr, wie das hieß. Ja. Und dann um achtzehn Uhr kamen die schon und suchten ihn, weil sie nachmittags antreten mussten, weil sie nach Bützow versetzt werden sollten. Da sollten sie Kriegsgefangene oder Gefangene, politische Gefangene bewachen. Und wir nehmen an, dass er das nicht konnte, dass er da nicht mit wollte, dass er dann zu dem Entschluss kam, hierher, wollte weg, hier durch die Elbe. Und das, ob noch was vorgefallen ist, das wissen wir nicht. Ob er da öfter schon irgendwie sich nicht ordentlich betragen hat, man weiß es ja nicht. Das kam eigentlich auch überraschend für uns. Ja. Bis dann, am 19. August war das ja, der 19. August, bis abends hier bei uns zwei von der Polizei kamen und uns verhört haben. Und alles. Wir war denn das alles noch weiter, ich weiß gar nicht. Dann haben sie das Haus besetzt hier, Telefon besetzt. Meinen Mann haben sie vorne verhört. Das war sonntags, sonntags abends. Und dienstags abends ist er dann zu Tode gejagt worden. Dienstags abends. Solange hat er sich diesseits der Elbe noch versteckt. Ich weiß nicht, wo. Mit meinem Fahrrad ist er vom Hof gefahren, das haben wir nie wieder gesehen. Und wo er dann abgeblieben ist, dann ist er abends bei Kummlosen in die Elbe gegangen. Obwohl er keinen Urlaub hatte. Und da haben sie schon auf ihn gewartet. Und dann ist er, hat ein Kampf stattgefunden da, dreimal soll er unten unterm Boot weggetaucht sein, und bis sie ihn zuletzt mit der Schiffsschraube getroffen haben. Ja, es hat noch mit dem Kommandanten da auf der, mit dem Offizier gesprochen, das haben wir auch gehört irgendwie. Und eben er muss an Bord kommen und da haben sie ihm wohl eine Stange hingehalten und das hat der nicht gemacht. Hat dann, hat sich nicht festgehalten. "Das könnt ihr doch nicht machen," er kann nicht wieder zurück, hat er gesagt, und "Das könnt ihr doch nicht machen!" Da wollten sie schießen. Das ist das, was wir wissen. Und dann haben sie ihn nachher, einundzwanzig Tage später, also fast drei Wochen später gebracht. Einen ganz schäbigen Sarg. Das haben sie von Ludwigslust, von Ludwigslust dahin gefahren, und da haben sie ihn eingesargt und da ist er auch hier beerdigt bei uns auf dem Friedhof. Das haben wir hier. Naja. Man hätte noch einen anderen Sarg oder was, aber ich hab ihn nicht mehr gesehen, ich wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Na, Gott, wie war das denn eigentlich alles? Dass er ertrunken ist vor allen Dingen, nicht, dass er ertrunken ist. Dass hat er, haben die gesagt. Ich wurde ja auch noch nach Perleberg, wurden wir auch noch hin zum Kreiswehrkommando oder was, da saßen auch noch Leute. Und da habe ich noch gesagt, dass er nicht ertrunken ist. Dass er Rettungsschwimmer war. Was sollte man machen, man wusste ja, was geschehen war. Dass sie ihn tot gemacht, totgejagt haben, richtig zu Tode gejagt haben. Das wusste, das wussten wir von Anfang an. Dann haben sie uns noch die Schuhe gegeben von ihm und ach, es war eine schlimme Zeit.

Er war ein fröhlicher Junge.

Biografie

Georg Lemme, 1. Juli 1953 geboren, 19. August 1974 bei seinem Fluchtversuch durch die Elbe von einem DDR-Grenzboot überfahren und getötet

Inge Lemmes Sohn Hans-Georg wollte eigentlich nie zur Armee. Im August 1974, er hatte bereits acht Monate nach der Einberufung zur NVA

Nationale Volksarmee (NVA) nannten sich seit 1956 die Streitkräfte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die NVA ging aus der Kasernierten Volkspolizei (KVP) hervor und war überwiegend mit Waffen und Gerät aus der Sowjetunion ausgerüstet. In der DDR wurde 1962 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.

hinter sich, hoffen die Eltern, er würde den Rest der Wehrverpflichtung auch noch aushalten.

Als er eines Sonntags nach Hause kommt, denken sich die Eltern nichts Besonderes. Er schaut nur kurz vorbei und ist dann bald wieder weg, das hatte er schon öfter so gemacht. Am Abend besetzen aber plötzlich Volkspolizei, Staatssicherheit

Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) wurde 1950 als Nachrichtendienst und Geheimpolizei gegründet, die sich als „Schild und Schwert“ der SED verstand. Das MfS verfolgte Menschen, die Widerstand gegen das politische System leisteten, überwachte mit weitreichendem Spitzelsystem die Bevölkerung und war als Geheimdienst im Ausland tätig. Darüber hinaus war es Untersuchungsorgan und betrieb eigene Untersuchungshaftanstalten. 

und Militär das Haus der Lemmes. Die Eltern werden getrennt  im Hause verhört und man wartet ab, ob sich der Fahnenflüchtige vielleicht zu Hause meldet.

Hans-Georg Lemme will fliehen, um dem Wachdienst im Gefängnis in Bützow, in dem auch politische Häftlinge ihre Haftzeit verbüßen, zu entgehen. Er versteckt sich zwei Tage lang, bis er an der Elbe einen Fluchtversuch in den Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

wagt. Als ausgebildeter Rettungsschwimmer, hat er gute Chancen ans westliche Elbufer zu gelangen. Doch auf der Elbe eröffnet ein DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

-Grenzboot eine regelrechte Jagd auf ihn. Der Bootsführer des Streifenbootes fährt immer wieder direkt auf Lemme zu. Zwei Mal gelingt es Hans-Georg unter dem Boot wegzutauchen, beim dritten Mal erwischt ihn die Schiffsschraube.

Drei Wochen nach seinem Tod wird den Eltern der Leichnam in einem verschlossenen Sarg übergeben. Eine Aufbahrung wird verboten. Auf dem Totenschein steht „wahrscheinlich ertrunken“. Die Eltern ahnen, dass das nicht die Wahrheit ist. Erst nach 1989 erfahren sie aus den Akten des Staatssicherheitsdienstes, wie ihr Sohn getötet wurde. 1998 steht der Bootsführer des Grenzbootes vor Gericht, angeklagt wegen Totschlags. Doch er wird freigesprochen, denn die Tötungsabsicht kann nach Ansicht des Gerichts nicht bewiesen werden.