Manfred Grünert

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Geboren bin ich am 1. Januar ´28 in Lübben im Spreewald. Mein Vater war dort Spieß, das heißt also Oberfeldwebel bei dem Preußischen Infanterieregiment. Aber wir wurden leider schon 1930 wegkommandiert, wie mein Vater geschrieben hat. Nach Auma in Thüringen. Kein Mensch wusste, was das für ein Nest ist. Mein Vater ging zur Sparkasse, wurde dort quasi stellvertretender Sparkassenleiter, stieg dann hoch in der Hierarchie und er hat sich aber immer bemüht, Soldat zu werden. Das war seine große Liebe, das Soldatsein war in ihm, das war unglaublich. Ich war eine große Kanone, eine große sportliche Kanone wie mein Vater. Ein guter Turner, ein guter Handballspieler. Und, aber in der Schule war ich ein sogenannter fauler Hund. Ich war in Friedenszeiten in Dresden in einer straff organisierten, sehr straff organisierten Schule für Knaben, so in Form einer, einer Napola. Ja, ich hab dann dort Karriere gemacht. Habe eine Jugendschaft übernommen, das heißt also, ich bin zum Führungspersonal aufgestiegen und das war es dann so, was Dresden anbelangt. 1944 ist Manfred Grünert 16 Jahre alt. Er wird zum Kriegsdienst einberufen. 1945, am Ende des Krieges, gerät er in amerikanische Gefangenschaft, aus der er nach drei Monaten entlassen wird. Er geht nach Lübben. Dann bin ich also nach Lübben und hab dort so mein Leben gefristet. Bis ich dann die Ilse Schulz traf, die hat gesagt: "Du, mein Bruder muss weg. Der Russe hat schon nach ihm gefragt, könnt ihr dem nicht helfen, der hat einige" der war Bildhauer, "ein Torso und so weiter." Und ich sage: "Ja, klar, machen wir das." Unternehmungslustig wie wir waren, haben wir den über die Grenze gebracht bei Elend/Braunlage. Und da begann das elendige Leben. Anstatt da drüben zu bleiben, wie es der Martin Schulz mir vorgeschlagen hat: "Bleib doch hier, Mensch, was willst du da drüben?", bin ich zurück zu meiner Ilse. Dann sind wir zurückgefahren nach Lübben und am nächsten Morgen klopft es an die Tür. Ja. Das war am 7. Januar 1947. Da holten sie mich ab. 1947 verhaftet die sowjetische Militäradministration Manfred Grünert wegen angeblicher Spionage und verurteilt ihn zum Tode. Wenig später wird er begnadigt und zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ich wurde in die erste Zone, zweites Korps, Baracke 26, zweiter Zug, dritte Kompanie eingeteilt. Eine Baracke mit Kompaniestärke, etwa 220 Mann belegten in dreistöckigen Holzbetten mit Strohsäcken, deren Inhalt nur noch aus Häcksel bestand. Die Verpflegung: morgens einen Halbliter dünne Wassersuppe mit Graupen oder Grütze, kurz "Blauer Heinrich" genannt. Die Suppe wurde nämlich aus Alu-Müllkübeln ausgeschenkt. Bei den letzten Kellen war die Oxydation so weit fortgeschritten, dass die Brühe bläulich schimmerte und nach Müllkübel schmeckte. Mittags gab es Dreiviertelliter Wassersuppe mit Spuren von Kartoffeleinlage und weiteren undefinierbaren Zutaten. Dazu vierhundert Gramm Brot, feuchtes, um nicht zu sagen nasses Brot. Abends so etwas wie Tee oder Kaffee und nochmal einen halben Liter wässrige Suppe. Am 26. Juno ´49, das war ein schöner, sonniger Tag, 9 Uhr, kamen die Befunde der Sputum-Untersuchung zurück. Ich schaute dem Hilfssani über die Schulter und sah hinter einem Namen drei Kreuze. `Das arme Schwein`, dachte ich und erschauerte. Denn der dreifach positive Befund galt mir. Offene Lungentuberkulose. Eine Welt stürzte ein. Sofortige Verlegung in die Tbc-Baracke. Gewicht 45,9 Kilo. Zustand: schwach, diagnostizierte der Arzt. Wahrscheinlich habe ich mein Leben einem Feldscher mit Namen Kurt Rohloff zu verdanken. Er stutzte, als er meinen Namen auf dem Krankenblatt las und fragte: "Sag, Sohn, hast du etwas mit Richard Grünert zu tun, den wir Richard Löwenherz nannten?" Ich nickte schwach, aber glücklich. Ja, das war mein Vater. "Ich war dabei, als er ´41 das Ritterkreuz in Klien vor Moskau verliehen bekam. Wurde dann aber verwundet. Heimatschuss." Und klopfte gegen seine Unterschenkelprothese. "Na, da wollen wir mal sehen, wie wir dich wieder auf die Beine kriegen!", und gab Anweisungen, mir nicht nur eine leicht verbesserte Kost, sondern auch Kalcium-Glukose-Infusionen zu verabreichen. Am 10. November verlor ich meinen Schwerkrankenstatus dank des unermüdlichen Kurt Rohloffs. Ich wurde innerhalb des Lagers verlegt. Mein schlimmster Gang erwartete mich, bevor ich in der zweiten Zone in der Lazarettbaracke 39 Quartier machen konnte. Ich werde mein Leben lang den Marsch in die zweite Zone und die Gefühle, die mich überkamen, nicht vergessen. Wir sammelten uns zwanglos zu einer Formation in Dreierreihen und stolperten mehr als wir marschierten durch die erste Zone des KZ Sachsenhauen in Richtung zweite Zone. Bislang war wenigen bekannt, dass die zweite Zone ein komplettes Krankenrevier war. Zu 90 Prozent an Lungentuberkulose Erkrankte, der sogenannten Hunger-Tbc. Als wir den Barackenkomplex verlassen hatten, schauten wir ungläubig auf, eine endlos scheinende, schneeweiße hohe Mauer, soweit man blickte, nichts als Mauer. Nur Mauer. Sonst nichts. Fast waren wir erleichtert, als sich in dieser Mauer eine Tür auftat. Eine verhältnismäßig kleine Tür für dieses Riesenmauerwerk, durch die wir in einen trostlosen Barackenkomplex gelangten. Eine Reihe der Unterkünfte war aus Holz, die andere aus Stein. Ich habe später beide Seiten kennengelernt. Die Baracke 39 war für mich nur Durchgangsstation, denn ich wurde in das Ostlager Steinbaracke 7, Steinseite, eingeteilt. Völlig verblüfft hat es mich, als ich eines Tages aus einem Lautsprechergerät wenige Tage danach nicht barsche Befehle, sondern Rundfunkklänge "Hier ist der Berliner Rundfunk." Noch am Tag wäre uns eine unzensierte Sendung, ein ganzes Radioprogramm unglaublich erschienen. Mehr noch geschah: Wir bekamen auf einmal Zeitungen, die "Tägliche Rundschau", das Organ der Sowjetischen Militäradministration, Das "Neue Deutschland", das Zentralorgan, die "Berliner Zeitung" oder auch die "Nationalzeitung". Natürlich alles linientreue Blätter, aber welch eine Veränderung brachten sie in den grauen Alltag. Über Neuzugänge aus der Ersten Zone erfuhren wir, dass an Weihnachten ´49 Bischof Dibelius, der Superintendent von Oranienburg Ernst Dietert und Probst Heinrich Gröber auf ihren Antrag hin von der sowjetischen Besatzungsmacht die Genehmigung erhielten, in den Weihnachtstagen das Lager Sachsenhausen zu besuchen, um dort einen Gottesdienst zu halten. In der Nacht zum 16. Januar 1950 schallten plötzlich Kommandos durch das Lager. Gerüchte über bevorstehende Entlassungen verdichteten sich immer mehr. Einer berichtete über seine Antennen zur Wachmannschaft: Sachsenhausen würde aufgelöst. Bis auf schwere Kriegsverbrechen würden alle Gefangenen entlassen. Welch unglaublicher Gedanke! Eines Tages stellte die Ambulanz die Arbeit ein. Doktor Göringer war verschwunden. Keiner wusste, wohin ihn die Russen gebracht haben. Er war weg. Also gab es keine Ambulanz mehr. Da war sie wieder, diese Unberechenbarkeit der sowjetischen Entscheidungen, die auf die Gefangenen den Eindruck der Willkür machen mussten. Niemand war sicher, was man mit ihm vorhatte, weil auch niemand wusste, was in seinen Akten stand. Wie würde unsere Zukunft aussehen? Wie Schlachtvieh wurden wir in Viehwaggons gesperrt, die Tür zugeschoben, die Riegel herumgeworfen. Fertig. Der Nächste. Wir bekamen weder Wasser noch Verpflegung. Wir warteten, was hier abgeht, versteht keiner besser als Deutsche. Alles wie bei den Nazis gehabt, ließ sich eine Stimme vernehmen. Manfred Grünert wird 1954 aus der Haft entlassen.

Ich werde mein Leben lang den Marsch in die zweite Zone und die Gefühle, die mich überkamen, nicht vergessen. Wenigen war bekannt, dass die zweite Zone ein komplettes Krankenrevier war. Zu 90 Prozent an Lungentuberkulose

Die Lungentuberkulose (Tbc) ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. 

Erkrankte, der sogenannten Hunger-Tbc

Die Lungentuberkulose (Tbc) ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. 

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Biografie

Manfred Grünert, Jahrgang 1928, wächst in einer Offiziersfamilie auf und ist ein von strenger Schule geprägter sportlicher Jugendlicher, als er 1944 zum Kriegsdienst einberufen wird. Das Kriegsende erlebt er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und kann nach drei Monaten in seine Geburtsstadt Lübben heimkehren.

Als ihn seine Freundin Ilse im Januar 1947 um Hilfe bittet, kann er nicht Nein sagen. Ihr Bruder wurde gewarnt, dass er verhaftet werden solle, deshalb muss er schnell aus der Sowjetzone verschwinden. Manfred könne ihm doch beim Weg über die Zonengrenze helfen, denn er würde sich doch auskennen. Manfred kennt sich aus und lotst Ilses Bruder im Harz sicher in den Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

. Der beschwört ihn nun, doch sicherheitshalber auch im Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

zu bleiben, doch Manfred kehrt zu Ilse zurück. Am nächsten Morgen wird er verhaftet.

Das Sowjetische Militärtribunal verurteilt den 19jährigen wegen angeblicher Spionage zum Tode. Ein Schock, doch schon bald gibt es wieder Hoffnung, denn er wird zu zehn Jahren Lagerhaft begnadigt. Manfred Grünert kommt ins sowjetische Speziallager

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

, erlebt die überfüllten Baracken, den allgegenwärtigen Hunger, Krankheit und Tod. Nach einiger Zeit wird bei ihm Tbc

Die Lungentuberkulose (Tbc) ist eine hochansteckende Infektionskrankheit. 

diagnostiziert. Eigentlich wieder ein Todesurteil, denn es gibt so gut wie keine Medikamente. Sein Glück ist es, das ein enger Frontkamerad seines Vaters im Lazarett arbeitet und dafür sorgt, dass Manfred so gut es geht versorgt wird. Er überlebt, wird aber 1950 bei der Auflösung des Speziallagers nicht entlassen. Bis 1954 ist er weiterhin in verschiedenen DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

-Gefängnissen inhaftiert.