Manfred Migdal

Klicken Sie auf das Bild, um das Interview abzuspielen.

Ich bin Manfred Migdal. Ich bin 1942 geboren in Berlin, im Nachkriegs-Berlin. Und meine Mutter, die war im Glühlampenwerk beschäftigt und hat am Band gearbeitet, nicht viel Zeit gehabt. Ich war, bin in den Trümmern von Berlin aufgewachsen und hab schon früh feststellen können, wo in Berlin es mir am besten gefallen hat - das war drüben im Westsektor, der war trotz der Trümmerberge bunter und interessanter und schon damals, als kleiner Junge auch freier. Und ja, und da bin ich denn schon sehr früh einer Nachbarin auffällig geworden, die in der Partei war und die sah das nicht so gerne, dass ich so oft im Westen für 25 Pfennige ins Kino gegangen bin. Und nur so, die Allüren des Westens so langsam angenommen habe, ja, von Mickey-Mouse-Heften angefangen bis nachher, bis zu Schauspielern, die gab es ja nur so, nicht wie heute Internet, sondern die gab es ja nur so auf kleinen Karten. Und die dachte: Nee, also, das könnte abfärben auf unsere Kinder, die wir ja zu sozialistischen Menschen erziehen wollen. Für die Familie war es okay gewesen. Meine Oma, die ist ja auch immer nach Köln gefahren zu ihren Geschwistern, und das war okay, für meine Mutter war das auch okay gewesen, bloß sie hat so "jein" gesagt, das heißt, sie war nicht dem Osten ganz, nicht gut gesinnt, sondern nur dem Westen, sie hat so zwischendrin gelebt, also das mit der Nachbarin fand sie auch nicht n Ordnung. Bloß sie hat auch nicht die Kraft gehabt, der entgegenzutreten. Sie sagte bloß: Du musst jetzt für lange Zeit weg, in ein Heim, und da wirst du erzogen, ich hab zu viel Arbeit, ich kann nicht auf dich achten, du bist hier in Berlin zu oft dir selbst überlassen und das geht nicht so weiter. Du musst jetzt ein bisschen erzogen werden und da hast du es gut, da kriegst du Essen und Trinken, da hast du Schule, da hast du alles und so unter dem Motto. Vielleicht, kann ja möglich sein, hat sie auch gesagt: Das tut dem ganz gut. Ins Kinderheim, da wurde ich von meiner Mutter gebracht. Also, das war erst ein Durchgangsheim in Berlin gewesen. Da wurde man abgeliefert von der Mutter. Und so bin ich schon früh, das heißt mit neun Jahren aus Berlin rausdeportiert worden in ein Kinderheim für schwererziehbare Kinder nach Wenigenlupnitz nach Eisenach. Und da sollte ich dann erzogen werden im Sinne des Sozialismus. Wir haben auch, mit Ton haben wir Figuren gebastelt, und beim Spazierengehen, haben wir uns auch Flitzbogen gebaut, die Jungs. Die Mädels, die haben irgendwelche Bucheneckern oder was gesammelt im Wald und wir sind mit Flitzbogen rumgelaufen und haben Indianer gespielt. Also, das haben wir schon gemacht. Die Erzieher haben sich ja auch Mühe gegeben. Aber immer im Hintergrund, der sozialistische Mensch, immer im Hintergrund. Die, die besonders gut waren, die durften denn zur Wartburg wandern oder durften sogar Weihnachten zuhause feiern. Und andere, die nun nicht so, so wie ich, die haben denn vollkommene Ausgangssperre gehabt. Die durften nirgends raus, die mussten im Heim bleiben. Es ist immer schwer gewesen, wenn sich die anderen denn fertiggemacht haben zum Urlaub oder zum Wandern und man musste denn drin bleiben, musste meistens den Aufenthaltsbereich säubern, den Fußboden schrubben und das Bad saubermachen und so weiter, Strafarbeit leisten. Das war ganz schön schlimm. Ansonsten habe ich damals zu meiner Zeit, ich muss ja immer betonen, meine Zeit war Anfang der fünfziger Jahre, noch keine weiteren Strafen erlebt. Die wollten mir erzählen, dass meine Tante im Westen mein Feind ist. Und ich sollte die Verbindung zu ihr aufgeben, die wäre nicht gut für uns, die wäre nicht gut für unser Land und ich solle doch versuchen, in die Jungen Pioniere reinzukommen, der Weg wäre der richtige und wenn man nachgefragt hat, dann konnte man nicht mit denen diskutieren. Das war es ja gewesen. Man konnte nur, man sollte nur gehorchen. Und das tat ich nicht. Und ich bin denn nach zwei Jahren wieder nach Berlin entlassen worden und war auch in der Clique gewesen in Ost-Berlin. Und wir sind weiter rüber und nüber nach West-Berlin. Kinos geguckt, denn kam ich so langsam in das Alter, wo man auch Jazzclubs sich anguckt, wo man hinging, und da war die "Eierschale" damals unser bester Club gewesen, der so eng und noch im Keller war und wo man denn, wo die Leute so in so einem engen, Rühr-Stil nannte man das, getanzt haben. Aber die Amis haben da Jazz gespielt, meistens Swing und das war unser Leben gewesen. Und das ging immer so weiter, bis ich dann mit 15 Jahren auch wieder angeeckt bin bei der besagten Frau, und die hatte wieder das Jugendamt eingeschaltet und da hieß es wieder: Der muss weg aus Berlin. Meine Mutter hat einen Brief gekriegt vom Jugendamt und wurde angewiesen, vorstellig zu werden mit mir auf dem Jugendamt. Und da saß denn eine Frau hinterm Schreibtisch und hat uns verkündet, dass ich angezeigt wurde von eben halt DDR-Bürgern, hier westliche Schundliteratur zu verbreiten, Mickey-Mouse-Hefte, und mein westliches Verhalten gegenüber anderen Kindern und es gefährdet die anderen, gefährdet die anderen Kinder. Und man hat beschlossen, mich auf unbestimmte Zeit in einen Jugendwerkhof einzuweisen. Und dagegen gab es auch keinen Widerspruch, gar nichts. Das war schon beschlossen, Ende, aus. Und da haben sie gesagt: So, mein Lieber, jetzt werden wir dich zum sozialistischen Menschen erziehen. Und da habe ich mir schon gedacht: Na, denn erzieht mal. Und ich hab mich immer dagegen gesträubt, immer, ich bin paar Mal abgehauen, bin immer wieder eingefangen worden. Und bis ich dann eines Tages verraten wurde. Ich wollte, da war ja, die Mauer war ja noch nicht, und da bin ich von jemand aus unserer Clique, der dem Heimleiter zugetan war sozusagen, als IM, jugendlicher IM, bin ich verraten worden. Und die Grenzer, die haben mich denn in Empfang genommen und ins Gefängnis gesteckt, ins Jugendgefängnis bin ich dann gekommen, für ein halbes Jahr, wegen meinem ganzen westlichen Verhalten, da haben die da Gründe genannt, und jetzt wollte ich mich davonstehlen ins kapitalistische Ausland und, nee, nee, ab ins Gefängnis. Und denn war ich in Saalfeld in U-Haft, später bin ich ins Jugendgefängnis gekommen und hab das ganze Desaster gesehen, was die da mit den Jugendlichen angestellt haben. In Dunkelhaft gesperrt, wenn sie nicht so wollten, wie die das vorgeschrieben haben. Und als ich dann aus dem Gefängnis gekommen bin, da bin ich denn wieder zurück in den Jugendwerkhof gekommen. Und da habe ich versucht, meine Strategie so ein bisschen zu ändern. Hab gedacht: So, nun, nur immer abhauen, nur immer mit dem Kopf durch die Wand, ich glaube, das haut nicht hin in diesem Staat, wo ja alles unter Kontrolle gewesen ist. Da war ja, da war ja jedes Fitzelchen unter Kontrolle gewesen, also da konnte man, da musste man aufpassen, dass man nicht zu laut dachte. Also überall waren Leute gewesen, die vielleicht, eventuell nur darauf warteten, dass sie dich ans Messer liefern. Und so kam es dann auch. Ich bin zum Schein im Jugendwerkhof in den Fanfarenzug eingetreten, bin ein sehr guter Bläser gewesen und bin befördert worden. Der Direktor sagt: Mensch, der Migdal, der hat sich bestimmt gewandelt, den haben wir jetzt soweit gekriegt, und jetzt wollen wir allen anderen zeigen, dass es sich lohnt, so nach unserer sozialistischen Manier zu leben. Und dann hat er vorgeschlagen, dass ich den Zapfenstreich blasen soll und zum Wecken, und das war mir ganz gut, brauchte ich frühmorgens den blöden Frühsport nicht mehr mitzumachen, und beim Zapfenstreich konnte ich richtig schön den Tag ausklingen lassen. Aber ich hab denen noch ein Schnippchen geschlagen: Ich habe zum Zapfenstreich das Abschiedssignal von "Verdammt in alle Ewigkeit" geblasen. Aus dem Film mit Frank Sinatra, aber die wussten das nicht, die waren so blöd gewesen, zum Glück die wussten das nicht, und der dachte nun, der Direktor: Ein wunderschönes Signal, wo hast du denn das her? Ich sag: Naja, ist aus einem Film. "Ach so, na das ist aber schön!" Dachte ich, und Eingeweihte natürlich, die Jugendlichen, die haben sich totgelacht hinter vorgehaltener Hand, ja, das habe ich gemacht, in einem sozialistischen Jugendwerkhof einen kapitalistischen Zapfenstreich geblasen. Also, das war meine Rache gewesen. Jedenfalls irgendwann, ich hab da als Tischler gearbeitet, irgendwann habe ich einen Arbeitsunfall gehabt und musste nach Jena zur ambulanten Versorgung. Und dazu brauchte man einen Passierschein, weil sämtliche Ausweispapiere, die verblieben im Heim. Und sollte man von der Streife oder von der Polizei oder wie auch immer unterwegs gefragt werden, wer man ist, man sich ausweisen musste, dann natürlich brauchte man Papiere. Und somit wurde immer ein Passierschein ausgestellt. Das ist der Jugendliche soundso, befindet sich auf dem Weg von Hummelshain/Jugendwerkhof nach Jena zur ambulanten Versorgung, wieder zurück von Jena nach Hummelshain. Und eines Tages suchte der Direktor seinen Kugelschreiber, fand den nicht und hat das in Bleistift ausgefüllt. Und ich zurück zur Unterkunft, hab das ausradiert und hab hingeschrieben anstatt "Jena zur ambulanten Versorgung" nach "Berlin/Ostbahnhof". Ja, und ich bin auch in Berlin gut angekommen. Und bin denn rüber in den Westen, hab es geschafft. Das war noch vor der Mauer. Und wie das der Zufall so will, ich bin in Berlin, in West-Berlin unterwegs, in den Kinos, und da treffe ich paar Leute, paar Freunde von früher aus meiner Clique. Und dann ging das los: Micky, Mensch, warum kommst du denn nicht rüber zu uns, ein Bierchen trinken. Die Grenze ist doch offen und die kontrollieren nicht an der Grenze. Und ich hab gezögert, gezögert und eines Tages bin ich doch rüber. Ging alles gut. Wir haben denn immer noch ein Bierchen getrunken, waren noch in der "Eierschale" und im Kino gewesen und haben Bierchen in der "Blauen Hecke" getrunken. Und ich hab bei meiner Mutter geschlafen und am nächsten Tag bin ich wieder zurück nach West-Berlin und das Leben ging weiter. So auch vom 12. zum 13. August 1961. Manfred Migdal darf nach dem Mauerbau nicht nach West-Berlin zurück. Mehrfach versucht er zu fliehen, wird dafür mit Gefängnis bestraft und schließlich durch die Bundesrepublik Deutschland freigekauft.

Die wollten mir erzählen, dass meine Tante im Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

mein Feind ist. Und ich sollte die Verbindung zu ihr aufgeben, die wäre nicht gut für uns, die wäre nicht gut für unser Land und ich solle doch versuchen, in die Jungen Pioniere reinzukommen, der Weg wäre der richtige … man konnte nicht mit denen diskutieren.

Biografie

1959 im Fanfarenzug des Jugendwerkhofs

Manfred Migdal, Jahrgang 1942, gefällt es in den Westsektoren besser als daheim in Ost-Berlin

Der sowjetische Sektor der Stadt Berlin umfasste den östlichen Teil. Ost-Berlin wurde zum Synonym für den kommunistischen Teil Berlins. Die DDR erklärte den sowjetisch besetzten Teil Berlins 1949 zu ihrer Hauptstadt. Seit 1961 waren Ost- und West-Berlin durch die Berliner Mauer geteilt.

. Einer Nachbarin, linientreue SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Genossin, missfällt es, dass Manfred Comics liest und sich wie ein West-Kind aufführt. Sie sorgt dafür, dass das Jugendamt die Mutter so sehr unter Druck setzt, dass sie sich einer Heimeinweisung nicht widersetzt. Im Alter von neun Jahren wird Manfred in ein Heim für Schwererziehbare nach Thüringen gebracht.

Nach zwei Jahren darf er wieder zurück zu seiner Mutter und zu seinen Freunden nach Berlin.

Als Manfred 15 Jahre alt ist, will er mit den ideologischen Verheißungen der SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

nichts mehr zu tun haben. Mit Freunden geht er in West-Berlin

West-Berlin war der von den West-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besetzte westliche Teil Berlins. West-Berlin war umgeben von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR. Seit 1961 riegelte die Berliner Mauer mit tödlicher Grenzanlage Ost-Berlin ab.

ins Kino und in Jazz-Clubs und genießt die Atmosphäre. Erneut beschwert sich die Genossin Nachbarin darüber bei der Jugendhilfe.

Völlig unerwartet wird Manfred in den Jugendwerkhof

Jugendwerkhöfe waren Spezialheime der DDR-Jugendhilfe für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die als schwererziehbar galten. Sie sollten durch Arbeits- und Kollektiverziehung sowie ideologische Beeinflussung zu sogenannten sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden.

Hummelshain

Im ehemaligen Neuen Jagdschloss Hummelshain in Thüringen befanden sich von 1948 bis 1991 ein Kinderheim sowie der Jugendwerkhof „Ehre der Arbeit“.

eingewiesen. Hier versucht er ausbrechen, bei Probstzella will er über die Grenze in den Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

fliehen. Es misslingt, er wird verhaftet und zu einer Jugendstrafe verurteilt. Nachdem er die verbüßt hat, muss er zurück in den Jugendwerkhof

Jugendwerkhöfe waren Spezialheime der DDR-Jugendhilfe für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die als schwererziehbar galten. Sie sollten durch Arbeits- und Kollektiverziehung sowie ideologische Beeinflussung zu sogenannten sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden.

nach Hummelshain

Im ehemaligen Neuen Jagdschloss Hummelshain in Thüringen befanden sich von 1948 bis 1991 ein Kinderheim sowie der Jugendwerkhof „Ehre der Arbeit“.

. Ein glücklicher Zufall verschafft ihm die Möglichkeit, einen Passierschein zu fälschen, um nach Berlin zu fahren. Er geht über die Sektorengrenze und lässt sich in West-Berlin

West-Berlin war der von den West-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besetzte westliche Teil Berlins. West-Berlin war umgeben von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR. Seit 1961 riegelte die Berliner Mauer mit tödlicher Grenzanlage Ost-Berlin ab.

nieder, trifft sich aber oft mit seiner Mutter und seinen Freunden in Ost-Berlin

Der sowjetische Sektor der Stadt Berlin umfasste den östlichen Teil. Ost-Berlin wurde zum Synonym für den kommunistischen Teil Berlins. Die DDR erklärte den sowjetisch besetzten Teil Berlins 1949 zu ihrer Hauptstadt. Seit 1961 waren Ost- und West-Berlin durch die Berliner Mauer geteilt.

. Dort hält er sich auch in der Nacht des Mauerbaus vom 12. zum 13. August 1961 auf. Der Rückweg ist nun abgeschnitten. Nach weiteren Fluchtversuchen und Haftstrafen wird er von der Bundesrepublik

Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 auf dem Gebiet des von den West-Alliierten (USA, Großbritannien, Frankreich) nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besetzten Teils Deutschlands gegründet. Das Saarland kam nach einer Volksabstimmung im Jahr 1956 dazu. Staatsform ist die parlamentarische Demokratie.

freigekauft.