Rosmarie Brückner

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Mein Name ist Rosmarie Brückner. Ich bin am 25. September 1957 geboren. Und bin von 1959 bis 1974, bis Ende August ´74, in verschiedenen Kinderheimen groß geworden. Die Zeit von ´59 bis ´64 fehlt mir komplett, da habe ich keine Erinnerung. Das heißt, demzufolge weiß ich nicht, wo tatsächlich meine erste Heimeinweisung war, in welcher Einrichtung, keine Ahnung. Beide Eltern waren definitiv Alkoholiker. Mein Vater war sehr brutal, der hat mich und meine Geschwister misshandelt. Alle zehn Geschwister, die, also neune, die, mit mir sind wir zehn, waren, sind aber nur vier von Brückners, sechs Halbgeschwister habe ich noch. Aber von sechs Halbgeschwistern wusste ich natürlich all die Jahre nichts, keiner von uns. So, und wie gesagt, und daher, in diesen Gesprächen im Nachhinein habe ich das, wie gesagt, erst erfahren, dass ich wirklich 1959 vom Jugendamt, dass wir da in einer Nacht- und Nebelaktion aus der Wohnung rausgeholt worden sind, ja. Da wurden wir in so einen Barkas reingestopft, alle verschieden, und dann kamen wir alle in verschiedene Heime. Das heißt, wir waren nicht zusammen. Und wie gesagt, die Jahre von ´59 bis ´64 sind aus meinem Gedächtnis weg, die weiß ich nicht. Das heißt, es wurde nie festgestellt, als ich anfing damals, die Geschwister zu suchen in den Karteikarten, keine Information auf meine Karteikarte, auf meine Eltern nicht, und in welches Heim ich zuerst kam, wer mich damals ursprünglich eingewiesen hat. Es ist nicht mehr nachvollziehbar. Also ist das für mich schon mal ein dickes Fragenzeichen: Wo war ich die Zeit? Definitiv nicht im Elternhaus. So. Dann, wie gesagt, war, 1964 wurde ich Brandenburg/Havel eingeschult, da war ich im Hilde-Coppi-Heim. War dort zwei Jahre, also bis 1966. Alle Schulen in sämtlichen Heimen, möchte ich damit betonen, war alles intern. Das heißt keine Kontakte mit, wir haben damals gesagt "Straßenkinder". Weil wir kannten ja nur das Heim und alles, was praktisch nicht dazu gehörte, wir konnten es damals nicht definieren, ging ja gar nicht. War für uns fremd. Ich kann mich auch erinnern, dass wir, wie gesagt, Kurzausflüge gemacht haben, mal ein Puppentheater oder was weiß ich, aber nur als Heim geschlossen. Also entweder gruppenmäßig oder das ganze Heim mal. Aber nicht mit anderen, die nicht im Heim waren, mit den Kindern kamen wir nie zusammen. Mit etwa neun Jahren wird Rosmarie Brückner von Jugendlichen im Heim sexuell missbraucht. Das wurde ja festgestellt, wer es war und die wurden wohl - entweder war es denselben Tag oder spätestens den nächsten Tag - entfernt. Denn ich kannte die Jungs nicht, für mich waren es Fremde. Ich wusste ja nicht mal, dass das Jugendliche praktisch aus dem Heim waren. Das kam alles erst viel, viel später. Hab ich das erst erfahren. Die sind weg. Und das war auch nicht irgendwo nochmal ein Einzelgespräch oder irgendwie ausfragen, das war praktisch, wie die heute sagen würden: Wie unter den Tisch gekehrt. Man hat es gewusst, man es gehört von den Erziehern, dass sie es wussten und danach war Schluss. In den Ferien war das so, da mein Vater das Sorgerecht hatte und in den Ferien wurden wir einzeln, meistens war das jedenfalls einzeln, ich kann mich nicht erinnern, dass wir irgendwann mal zusammen waren, durften wir mal nach Hause. Ferien hört sich immer lang und schön an, das Wort schon nur, das, aber ansonsten nicht. Da mein Vater ja, wie gesagt, Alkoholiker war, ich hätte ihn auch cholerisch eingeschätzt, aggressiv, hielt ich das da immer nicht lange aus. Das war immer wirklich nur zwei, drei Tage maximal. Das war immer ganz kurz. Und der hatte uns denn immer geschlagen mit Gegenständen. Das nächste Heim war erstmal kein Heim, sondern das war meine Stiefmutter, und zwar war das in Luckenwalde. Da war ich circa, wenn ich mich nicht irre, waren das vielleicht sechs bis acht Jahre. Und da kann ich mich erinnern, also da gingen wir auch zur Schule, ja. Und die hat uns nochmal misshandelt. Und ich habe das meiste - wie gesagt - abgekriegt. Und dann manchmal auch wegen Kleinigkeiten und so, die war auch sehr gemein. Und da fing das dann so langsam bei mir an, wie gesagt, den Begriff Suizid, Selbstmordgedanken, in der Richtung war für mich kein Begriff, aber die Gedanken waren da. Das ich da nicht mehr sein wollte, dass mir keiner mehr weh tut und alles, nicht. Und mein Vater hatte ja auch, das war, fünf, sechs, sieben, keine Ahnung, jedenfalls war ich da noch klein, waren wir zwei, drei? Wie gesagt, kann ich jetzt nicht sagen hundertprozentig. Dann hat er mit mir immer Hoppe-Hoppe-Reiter gespielt. Aber nicht so, wie Sie denken. Der hat mich missbraucht. Und schon alleine, weil ich dann immer schon in der, von ihm in der Nähe kam oder ich wusste, der kommt, da hab ich schon Riesenangst gehabt immer. Da wurde ich dann richtig zitterig und alles und kriegte Panikattacken. Und hab ständig geweint und wollte, hab versucht, immer mich zu verkriechen im Prinzip, irgendeinen Ort zu suchen, wo er mich nicht finden könnte, habe ich immer gedacht. Pustekuchen. So war es ja nicht. Der hat mich immer wieder gefunden. Und bei meiner Stiefmutter weiß ich, dass ich dann irgendwann anfing, mich zu rächen, das heißt, dass ich angefangen habe, alles zu zerstören. Naja, ich hab ihre, wenn ich im Bad war, die hat ihre Wäsche draufgehangen gehabt, habe ich die dann zerschnitten, zerrissen und was weiß ich, alles das gemacht, also, weil ich nicht wusste, wohin mit meinen ganzen Gefühlen, mit meinen Aggressionen. Ich konnte das nicht unterordnen, nicht einordnen, was, wie, ich hatte ja niemanden, der mir wirklich hilft, geholfen hätte. Nach einem tätlichen Übergriff durch den Vater kommt Rosmarie Brückner für einige Monate in ein Kinderheim nach Müllrose und von dort in das Durchgangsheim Bad Freienwalde. Bad Freienwalde war für mich eine schlimme Erfahrung. Nicht nur, dass man von vornherein erstmal jeder in Einzelhaft kam, sondern es war ja, wie gesagt, Kinder da, deswegen haben wir gesagt, ist ein Kindergefängnis. Weil ab vier Jahre bis achtzehn Jahre, in diesen unterschiedlichen Altersgruppen waren wir vertreten. Und ich war zu dem damaligen Zeitpunkt in der 6. Klasse und war dreizehn. Und in dieser Einrichtung, müssen Sie sich das vorstellen, ist wie ganz normal im Knast. Das heißt, mit Gittern vor den Fenstern, Eisentüren, Spion da drin. Das war von außen so ein kleiner, wie hier der Spion bei mir zuhause im Prinzip, den Deckel da ein bisschen beiseiteschieben, da konnten die immer schön da durchgucken. Ja, und dann diese Eisenriegel. Das heißt, die Türen waren immer geschlossen. Wir waren zu viert im Zimmer. Also, die ersten drei Tage alleine in der Arrestzelle, also praktisch dann. Um nun zu überlegen, da wurde man gefragt, also, damit du überlegst, warum du hier bist, ja, ja, dafür ist die Zeit dagewesen, dass du dir Gedanken machst in der Zelle, warum du jetzt da drin bist. Also, was habe ich angestellt? Ich konnte es mir nicht erklären, ich wusste das nicht. Ob ich da nun gegen die Türen gedonnert habe oder sonst was, nichts. Und da hatten wir drin, auch im Zimmer, überall, eine Toilette gab es nicht. Die Notdurft durften wir verrichten, wie gesagt, auf so einem Emaille-Eimer mit Deckel, und da war das ja denn so, dass das alles auch nach Zeit ging. Das Duschen war unten. Das war vielleicht, circa sieben bis zehn Minuten maximal, das wir warmes, lauwarmes Wasser hatten, und dann wurde abgestellt und dann war es bloß kalt. Ob wir jetzt eingeschäumt waren oder nicht, das ging halt wirklich, wir mussten uns anstellen, dass wir Shampoo raufgekriegt haben, bisschen, und bisschen eine Seife in die Hand, Kernseife, und das war es dann aber auch. Ein bisschen Zahnpasta, da mussten wir immer die Zahnbürsten hinhalten - das war aber in allen Heimen so. Wir mussten uns anstellen, Zahnpaste raufgeknallt gekriegt und dann durften wir uns hinten die Zähne putzen. Und wenn man Bau gekriegt hat, wenn man denn irgendwie Mist gebaut hat oder sich daneben benommen hat, nicht die Regel eingehalten hat, dann gab es ja auch Essenentzug. Das hatten wir mehr als genug. Und das haben wir aber schon so gedeichselt: Unter uns waren die Jungs. Nee, Quatsch, die waren über uns, so umgedreht. Wir waren unten und die Jungs waren eine Etage höher. Dann haben die immer mit Strippen an den Gitterstäben, werde ich nie vergessen, dann haben sie immer Brot und bisschen Wurst daran festgemacht und haben es immer runtergeseilt. Ja, und umgedreht immer, wenn einer Bau hatte, haben wir dem anderen versucht, Stullen irgendwie, und irgendwas, und wenn es bloß trocken Brot war. Da hat einer praktisch, die die zwei, drei Scheiben gekriegt haben, die haben bloß eine gegessen oder zweie und der andere hat dafür im Bau eine Stulle mehr gehabt auf Deutsch gesagt und Trinken gab es immer nur einen Becher voll. Eine kleine Plastetüte, Tasse da, mehr war das gar nicht. Von dort aus kam ich dann nach Wismar. Das heißt Kinderheim Krassow, Kreis Wismar. Wie ich dazu kam, wer mich da eingewiesen hat, also, ich kam ja wohl von Bad Freienwalde aus, wie auch immer, bin ich dann da überführt worden, das letzte Heim. Das war ein Heim für Schwererziehbare. Auch in diesem Heim mussten wir arbeiten. Und da war aber eher Richtung Tischlerei. Dann hatte man wie so eine Art, wie so einen Bauernhof, aber nur außerhalb, das war jetzt nicht mehr im Heim. Das heißt aber, wir durften da auch nicht quatschen oder wenn wir jetzt Feldarbeiten, hatten wir oft genug, wo wir Steine sammeln mussten, Kartoffeln sammeln mussten, alles sowas. Und Geld im Prinzip, all die Jahre, ist egal, in welchem Heim es war, Taschengeld gab es nicht. Zu ihrer Mutter hat Rosmarie Brückner keinerlei Kontakt. Zu ihrer Jugendweihe wünscht sie sich, dass sie sie besuchen kommt. War das einen Tag vorher? Nee, das war den gleichen Tag wie die Jugendweihe war. Hat das Jugendamt - für mich war das bloß eine Frau gewesen, dass die vom Jugendamt, die hat dann nur gesagt: "Rosi, darf ich dir deine Mutter vorstellen?" So habe ich sie angeguckt. Ja. Ich hatt` mich zwar in dem Moment erstmal gefreut und hab sie auch wohl umarmt, aber die wusste wohl nichts mit mir anzufangen, nicht so wirklich. So. Ob ich sie da verschreckt hab? Keine Ahnung. Jedenfalls habe ich mich denn auch wieder versucht, im Innerlichen zurückzuziehen, also war da auch sehr deprimiert, hab das alles durchgezogen. Und dann fing die an, Geschenke zu verteilen. Und Sie werden es nicht glauben: Genau einen Tag später war wohl die Polizei da, jedenfalls kam die Erzieherin damit an und hat mir alles weggenommen. Das Einzige, was ich wirklich behalten durfte, weil sie das nachweisen konnte quittungsmäßig, war dieser Scheiß-Fotoapparat. Sogar die Kleider waren wohl geklaut. Das war meine Jugendweihe. Seitdem habe ich sie noch nicht wiedergesehen. Ich habe auch versucht, mir dort das Leben zu nehmen. Das war unmittelbar nach meinem, nach dem Besuch von meiner Mutter. Also, kurz danach denn, ein, zwei Tage später war das. Weil ich das einfach nicht verstanden habe. Wieso haben sie praktisch mir das alles weggenommen? Ich konnte das einfach nicht begreifen, weil ich diese Information, dass da irgendwo, dass meine Mutter in Knast oder sowas, das kam ja dann erst danach raus. Und da habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen. Bin ich runtergegangen in den Waschraum praktisch und hab dann mit einem Bademantelgürtel, hab ich denn am Rohr mich aufgehangen. Und hab natürlich den Fehler gemacht - zu dem damaligen Zeitpunkt, sage ich das - und hab das noch vorher jemandem erzählt. Und die ist denn petzen gegangen, wie ich so heute sage und hat das der Erzieherin gesagt und die haben sich aufgemacht und haben mich gesucht und gefunden. Mit 18 Jahren wird Rosmarie Brückner aus dem Heim entlassen. Sie beginnt eine Berufsausbildung und lebt im Internat in Rüdersdorf. Ich war ja, wie gesagt, anschließend gleich, wie ich nach Rüdersdorf kam, drei Jahre im Internat. Und dadurch hatte ich ja, ist immer wie ein Heimgefühl, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, verstehen Sie, wie ich meine? Weil, ich bin auch nur so großgeworden, nur in Gruppen. Und da fing das Leben erst für mich an und hab es beziehungsweise kennengelernt, wollen wir mal so sagen. Und das wirklich nur mit Hilfe der Erzieher. Und die haben viel mit mir zu tun gehabt. Ich hab ja, war ja wirklich rebellisch ohne Ende. Manchmal frage ich mich echt, wie ich das alles überleben konnte. Ich weiß auch gar nicht, wo ich die Kraft hergenommen, keine Ahnung. Hab ich keine Erklärung. Weil, man hat sich die ganzen Jahre, das ganze Leben sich wie eine Fremde gefühlt. Man hatte ja keine Heimat, auf Deutsch gesagt. Ich war ja überall in der Fremde, es wurde immer nur weggestoßen, hin, da und hierhin gezogen, aber dass ich irgendwo eine feste Heimat hatte - nee. Das ist geblieben, erst Rüdersdorf wurde meine Heimat. Wie sage ich immer so schön: Die Seele ist und bleibt ein Arsch. Also, das ist, das nimmst du mal mit ins Grab, das Erlebte, da müsstest du ein neuer Mensch werden, das heißt, das müssten sie dir alles rausreißen und im Prinzip neuen Körper, neuen Kopf, was auch immer.

Manchmal frage ich mich, wie ich das alles überleben konnte. Ich weiß auch gar nicht, wo ich die Kraft hergenommen habe, keine Ahnung. 

Biografie

Rosmarie Brückner, geboren 1957, ist seit ihrem zweiten Lebensjahr immer wieder in Kinderheimen in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

untergebracht. Die Eltern sind Alkoholiker, der Vater ist gewalttätig, misshandelt und missbraucht sie. Dennoch wird sie in den Ferien immer wieder zu ihm geschickt.

Doch im Heim ist es nicht besser. Auch dort erlebt sie ständig Gewalt, versucht auszubrechen und gilt deshalb als aufsässig und schwer erziehbar. Fragen nach den Ursachen stellt sich die DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

-Jugendhilfe nicht. Stattdessen kommt Rosmarie ins Durchgangsheim nach Bad Freienwalde

Das Durchgangsheim in Bad Freienwalde (1968-1987) war ein geschlossenes Jugendhilfeheim der DDR, in dem Kinder und Jugendliche bis zur späteren Verteilung auf andere Heime untergebracht waren. Das Gebäude war zuvor ein Gefängnis. Fenster und Flure waren vergittert. Es lag hinter Mauern und Stacheldraht.  Zum Alltag gehörten Isolationsarrest, Essensentzug, Drill und erzwungene Arbeit.

. Unter haftähnlichen Bedingungen erlebt sie Isolation und Demütigungen, Unterstützung erhält sie nicht. Das „Spezialheim“ bei Wismar, in das sie anschließend geschickt wird, ist nicht viel besser. Wieder erlebt sie Gewalt und wird von anderen Heimkindern sexuell missbraucht. Auch hier ist die Schule auf ein Minimum reduziert, jedoch gearbeitet wird täglich.

Zur Jugendweihe

Die Jugendweihe war eine staatlich organisierte Feier zum Eintritt in das Erwachsenenalter. Kern war ein Gelöbnis, mit dem sich die Jugendlichen zum Sozialismus und zur DDR bekennen sollten. 

sieht sie zum ersten Mal ihre leibliche Mutter. Es wird das einzige Mal bleiben. Die Geschenke, die sie mitbrachte, werden ihr fast alle am nächsten Tag abgenommen. Es sei Diebesgut gewesen, sagen die Erzieher.

Schon oft hatte sie daran gedacht, der Prügel und Gewalt zu entfliehen. Rosmarie ist verzweifelt und versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber ihr Leben wird gerettet.

Als sie das Heim endlich verlassen kann, kommt sie in ein Internat nach Rüdersdorf und ihr wird eine Lehrstelle im Zementwerk zugewiesen. In Rüdersdorf lebt sie immer noch. An den Folgen der körperlichen und seelischen Verletzungen in ihrer Kindheit und Jugend leidet sie bis heute.