Barbara Kirchner

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Am 19. November 1946 bin ich in Sachsenhausen zur Welt gekommen, und die Vorgeschichte sah so aus, dass meine Eltern, die gerade den Krieg fertig hatten - mein Vater war in der ganzen Zeit an der Front in Russland als einfacher Panzersoldat, meine Mutter stammte aus Schlesien und war nach Berlin gekommen in diesen ganzen Wirren zum Schluss - und die beiden hatten am 29. Dezember ´45 geheiratet. Und glaubten, nun können sie ein neues Leben aufbauen und alles wird gut. Und mein Vater hatte hier in Berlin nach, nach, gleich im Sommer oder Frühherbst des Jahres ´45, er war Journalist und hat eine Zeitung gegründet, die hieß, ich glaube, "Neues Leben". Oder "Neue Jugend"? "Neues Leben". Und er wohnte bei seinen Eltern in Schöneberg, das war der amerikanische Sektor. Die Druckerei aber der Zeitung war im sowjetischen Sektor. Und nach schon ein paar Monaten sagte er: "Das ist nicht mehr meine Zeitung! Alles, was ich an Idealen mir hier vorgestellt habe," - man setzte ihm nämlich immer mehr Journalisten hin, die eigentlich nur Parteitreue/ -getreue waren, und dann hat er nach ein paar Monaten gesagt: "Ich höre auf." Hat den Dienst quittiert dort und ist gegangen zu einem amerikanischen Nachrichtenservice. Und tja, das muss wohl der Grund gewesen sein, das muss man ihm übelgenommen haben, denn wer zu den Amerikanern geht, ist selbstverständlich ein Spion und ein antikommunistischer Propagandist, und genau so lautete das Urteil. Meine Eltern fuhren Ostern nach Dresden, wollten fahren zu Freunden, um dort was Essbares zu kaufen und was es in Berlin nicht mehr gab und um vor allen Dingen, sie hatten, wie gesagt, gerade geheiratet, ein paar Pfannen, alles, was in Berlin nicht mehr da war, gab es dort noch bei den Bauern. Und das war die Fahrt, die wahrscheinlich irgendjemand wusste, dass sie dort hinfahren, es muss jemand verraten haben, denn unterwegs im Zug oder wo stieg ein Militär ein und nahm sie fest, ganz einfach. Sie hat nie ein Urteil bekommen, sie wurde nie irgendeinem Richter vorgeführt, sie war eine Gefangene, wie man das damals nannte, eine Internierte. Er wurde verurteilt, SMT-verurteilt durch das sowjetische Militärtribunal wegen antikommunistischer Propaganda und Spionage zu zwanzig Jahren. Sie kam nach Sachsenhausen und plötzlich in ein Lager, wo schon Kinder waren, bis dahin gab es, hat sie keine Kinder gesehen, und da war sogar eine Baracke, in der, glaube ich, zehn Kinder schon mit ihren Müttern waren. Und da sagt sie, da hat sie dann begriffen, dass sie wohl wahrscheinlich ihr Kind hier auch zur Welt bringen will. Jeder Gefangene bekam, blieb in der Kleidung, in der er verhaftet worden war. Und die, die im Sommer kamen, hatten ihre Sommerfähnchen im Winter noch an. Es gab am Anfang noch nicht einmal Strohsäcke. Sie sagte dann auch, es waren einfach nur mehrstöckige Betten. Später dann erst kamen diese Strohsäcke auf, und ich wurde im Lazarett geboren. Da war ein wunderbarer Arzt und eine Krankenschwester, die sich sehr um alle gekümmert haben. Also, die Geburt verlief normal, aber ich war auch, und dann als Kind, was bekam ich? Das gleiche! Grütze mit dicke Spelzen drin. Das haben sie dann irgendwie durch ein Stück Stoff, die Mütter gepresst, damit wenigstens diese gefährlichen Dinger raus waren, und dann gab es, dann haben sie Mehl gehabt ein bisschen, so, Verstärke, und die haben sie reingerührt in diese dünne Suppe, die es gab. Ja, meine Mutter erzählte oft, mit das Schlimmste war, dass sie wusste, dass ihre Schwiegereltern in Berlin, die jeden Tag auf die Heimkehr der Kinder warteten, die kamen einfach von Ostern von ihrem Ausflug nicht mehr zurück. Dass sie nicht wussten, dass sie gefangen sind, dass sie, die Internierten durften überhaupt nicht schreiben. Später, ich glaube, auch erst ab ´48, durften die Gefangenen, die Verurteilten sogar Briefe schreiben, weiß nicht, einmal im Monat zwanzig Zeilen. Die Briefe meines Vaters kamen immer geschwärzt an, weil er wahrscheinlich Dinge schrieb, die nicht gefielen. Aber die, diese nur Internierten durften kein Wort nach Hause schicken zu ihren Familien. Und das ist schon, ich glaub, mit das Schlimmste, was man Familien antut, dass man nicht weiß, wo sind sie? Meine Großeltern wussten nicht, dass ein Kind existierte, ihr erstes Enkelkind, nicht, das sind alles, das sind diese unmenschlichen Dinge. Und die Mütter, sagt sie, haben ständig Angst gehabt, was nämlich immer wieder passierte, dass man auch mal Müttern die Kinder wegnahm und nach Russland deportierte. Oder die Mütter deportierte oder das Kind, also, alles Mögliche geschah, und diese ständige Angst von den Kindern getrennt zu werden, und das sind natürlich Dinge, die sich auch auf Kinder übertragen, ein Kind merkt die Angst der Mutter. Meine Erinnerung beginnt mit dem Tag der Entlassung. Das war der erste Tag, wo es anders war in meinem Leben. Und zwar, ich werde es nie vergessen, ich, was ich anzuziehen bekam. Meine Mutter sagt, wir hatten ja auch keine Kleidung, auch als Kinder im Grunde genommen kaum etwas. Und wir kriegten, die, die Kommandantin hatte für die Kinder, die entlassen wurden, aus den russischen Familien hatte sie Kinderkleider gesammelt und wie ich dann später sah, hatte ich ein Paar Stiefel, zum ersten Mal Schuhe in meinem Leben, bekam ein paar Filzstiefel und hatte einen Mantel und ein Kleid. Und meine Mutter hat noch, aber das weiß ich natürlich auch nur durch sie, bestanden darauf, als man ihr ihren Entlassungsschein gab, dass da drauf steht "und Tochter Barbara". Ich hatte in letzter Zeit ein kleines Tier geschenkt bekommen, ein Kätzchen aus Fellresten genäht von einem russischen Soldaten. Also, ein Bewacher hatte mir eines Tages ein kleines Kätzchen geschenkt, das er irgendwann im Nachtdienst vielleicht selber gemacht hatte, lauter kleine Fellreste mit einem roten Mund und grünen Augen, und das war mein einziges Spielzeug. Und als wir jetzt durch die Sperre gingen, nahm man dieses Kätzchen mir weg, trennte es vor meinen Augen auf, weil man gedacht hat wahrscheinlich, es sind irgendwelche Kassiber drin, wir schmuggeln irgendetwas hinaus. Und das war für mich ein entsetzlicher Moment. Alles war ja fremd, ich kannte nichts als meine Baracke. Und ich weiß selber noch, ich erinnere mich natürlich nicht an Einzelheiten, aber Häuser, ich hatte eigentlich nur Angst. Ich ging plötzlich, und dann mussten wir, wir kamen, diese S-Bahn, das war ein Ungetüm für mich. Und dann fuhren wir lange, eh wir zeitig, alles war ja fremd und neu und beängstigend und dann, und das erzählt natürlich auch meine Mutter, aber ich selbst, das weiß ich noch heute, dass ich laufen sollte. Erst mal gingen wir eine riesen Treppe runter vom Bahnhof Schöneberg. Und ich hab, kannte keine Treppen, keine Treppen, gab es nicht! Und plötzlich sollte ich laufen! Ich hatte Angst. Und meine Mutter konnte mich nicht tragen, sie war zu schwach, sie hat das nicht geschafft, mich diese Treppe, und so hat sie mich irgendwie von Stufe zu Stufe gelotst, bis wir unten waren. Und dann gingen wir zu den Großeltern, die Strecke ist heute zehn Minuten, keine zehn Minuten. Und sie sagt, sie hat eineinhalb Stunden gebraucht. Und dann hat sie mir Schaufenster gezeigt, was mich natürlich völlig überfordert hatte. Und da waren die vielen Menschen und große Kinder, das war schön. Aber irgendwann kamen wir bei den Großeltern an. Ich hab einen Traum bis zum zwölften Lebensjahr gehabt, und das zeigt dieser erste Tag des Laufenmüssens, ich war schon in der Oberschule, da hab ich nachts noch geträumt, ich muss laufen, ich sehe eine riesen Straße vor mir, das ist natürlich auch eine Zeit danach, wo wir dann unsere Papiere holen mussten, wo ich mitgeschleppt wurde, weil ich zuhause nicht allein bleiben wollte bei den Großeltern. Und wo wir uns keine Straßenbahn leisten konnten, das heißt, wir liefen viel. Und diese Zeit, die für mich einfach, das konnte ich einfach noch gar nicht, die Stärke hatte ich nicht. Und dieser Traum, dass ich eine endlose Straße lang gehen muss, immer die gleiche, ich sehe noch eine, ein zerstörtes Haus, an der eine Pelikanreklame ist, dieses Tier da für die Tinte, werde ich nie vergessen, und ich muss diese Straße lang und irgendwann wachte ich auf und war in meinem Bett und musste keine Straße mehr lang. Aber bis zum zwölften Lebensjahr habe ich das geträumt. Und dann, denke ich, diese Angst, von der Mutter getrennt zu werden, die war so, dass meine Mutter das Haus, die Wohnung nicht ohne mich verlassen konnte. Dass ich weinte, sobald sie zur Tür ging. Und selbst noch zwei Jahre später, als ich schon bei den anderen Großeltern war, wenn ich alleine in der Wohnung war, wenn meine Großmutter dann wegging, den Mülleimer runterbringen, dann hat sie gesagt: "Barbara, stell dich ans Fenster," - im Winter wo es eiskalt war und ich vielleicht noch nicht angezogen - "stell dich hin, ich guck, du siehst mich." Hat nichts geholfen. Ich habe geschrien wie am Spieß, sobald ich alleine war. Die Großeltern hatten einen Schrebergarten, und da gab es dann Obst und Gemüse, alles Sachen, die bestimmt geholfen haben, dass ich auch gesund aufwuchs, denn sonst waren sie bettelarm und haben wirklich jeden Tag überlegt. Ich seh noch meine Mutter, wie sie dasitzen und überlegen, was sie essen, ob Quark, Kartoffeln, was sie dazu machen oder einmal in der Woche gab es Wurst oder sowas, es war eine schwere Zeit. Ja, und da hab ich mit zehn Jahren also zum ersten Mal meinen Vater gesehen. Ja, das war natürlich eigentlich eine, wenn man zehn Jahre lang immer erklärt bekommt: Hier ist, das ist dein Vater, und der wurde natürlich in meiner Phantasie absolut überhöht, es war der größte und tollste Mann der Welt, aber ich muss sagen, er war eine solche Persönlichkeit, dass ich nicht enttäuscht war. Ich hab jetzt, jetzt nach der Wende natürlich, wo wir immer unsere Kindertreffen machen, habe ich erfahren, dass die meisten nach der Entlassung, die Mütter durften nicht darüber reden, was ihnen passiert ist. hatten manche, unter Strafandrohung wurde ihnen erzählt, sie dürfen nicht sagen, wie ihre Jahre in der Gefangenschaft waren, die im Osten geblieben sind. Bei uns im Westen war es anders. Es bestand kein Interesse. Aber als ich sechzehn Jahre alt war in Hamburg, da wurde im Geschichtsunterricht über die KZs gesprochen. Und da hab ich gesagt: Ja, ich bin in Sachsenhausen geboren. Und der Lehrer selber war sehr verwirrt, wusste auch eigentlich nicht wirklich, was los war, und am nächsten Tag kam ein Junge auf mich zu und sagte: "Mein Vater, ich hab mit meinem Vater gesprochen, der sagt, entweder du lügst, dass es gar nicht stimmt oder dein Vater war ein ganz schlimmer Nazi!" Es konnte sich nicht jemand vorstellen, dass auch unschuldige Menschen dort saßen. Das Schlimme war übrigens auch das Ungeziefer. Ich bin noch heute allergisch gegen jeden Stich. Meine Mutter sagt, ich war als winziges Baby übersät von Flöhen, sie sagt, sie hat immer früh geweint, wenn sie aufgewacht ist, weil dieses Kind völlig, dass ein Baby zerstochen von Kopf bis Fuß ist von Flöhen und Wanzen. Nein, ich, unter allen Umständen kann ich nur sagen, ich bin ein glücklicher Fall. Darum sehe ich es als ganz großes Glück an, dass ich in den Westen entlassen wurde und zusammen mit meiner Mutter, dass wir eben nicht getrennt wurden. Das Schicksal ist für mich das schrecklichste.

Als ich 16 Jahre alt war, in Hamburg, wurde im Geschichtsunterricht über die KZ‘s gesprochen und da habe ich gesagt: ich bin in Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

geboren. Der Lehrer war sehr verwirrt. Am nächsten Tag kam ein Junge und sagte: „Mein Vater sagt, entweder du lügst oder dein Vater war ein ganz schlimmer Nazi.“ Es konnte sich keiner vorstellen, dass auch unschuldige Menschen dort waren.

Biografie

Wenige Wochen nach der Entlassung

Barbara Kirchner wird 1946 im sowjetischen Speziallager

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

geboren. Ihre Mutter war schwanger, als sie zusammen mit Barbaras Vater auf der Fahrt nach Dresden von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet wurde. Der Vater, ein Journalist, arbeitete in Berlin für eine amerikanische Nachrichtenagentur. Dafür verurteilte ihn das sowjetische Militärtribunal zu 20 Jahren Lagerhaft wegen „antisowjetischer Propaganda und Spionage“.

Seine Frau kommt ohne Urteil nach Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

und trifft hier auf andere Mütter mit kleinen Kindern.

Es ist schwer, das Überleben der Säuglinge zu organisieren. Es gibt nichts für die Kinder, weder zusätzliche Nahrung, noch Kleidung oder Windeln. Dafür jedoch eine Unmenge Ungeziefer wie Flöhe und Wanzen, die insbesondere die Säuglinge nachts attackieren. Trotzdem schafft es Barbaras Mutter, das Kind durch drei Jahre Lagerhaft zu bringen.

Barbaras Erinnerung beginnt am Tag der Entlassung. Bisher kannte sie nur die Lagerrealität mit Baracken, Pritschen und wenig neuen Eindrücken. Jetzt ist sie überwältigt von den vielen Farben, den großen Häusern, Bäume und Menschen in sauberer Kleidung. All das hatte sie noch nie gesehen. Es dauert lange, ehe sie sich an den Großstadtalltag in West-Berlin

West-Berlin war der von den West-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besetzte westliche Teil Berlins. West-Berlin war umgeben von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR. Seit 1961 riegelte die Berliner Mauer mit tödlicher Grenzanlage Ost-Berlin ab.

gewöhnt hat. Als sie zehn Jahre alt ist, sieht sie ihren Vater zum ersten Mal, als er nach seiner Haftentlassung 1956 nach Hause kommt.

Es ist ein großes Glück für sie, im Lager nicht von der Mutter getrennt worden zu sein.