Carola Schüler

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Ich heiße Carola, bin im April 1958 geboren, habe einen Bruder. Meine Mutter, ja, die hat sich zur Wende umgebracht. Und mein Vater war freundlicherweise bei der Kriminalpolizei. Bin in Berlin geboren und habe soweit auch immer in Berlin gelebt. Also, die Kindheit war von Anfang an irgendwo für mich schon mit Verlassensein bestückt. Bis zum 3. Lebensjahr war ich in einer Wochenkinderkrippe, weil beide Eltern berufstätig waren. Und dann in einem Wochenkindergarten. Mit sechs Jahren haben sich meine Eltern scheiden lassen. Da fing eigentlich so die Problematik an mit meiner Person, irgendwie, ich hatte ja nie die Familie für mich. Und denn sollte der Vater gehen und da fing ich an als Sechsjährige, Tabletten zu nehmen, mich selbst zu verletzen. Ich wollte einfach dadurch erreichen, dass der Vater dableibt, dass die Aufmerksamkeit eben weg von den Problemen von denen kommt, übersetze ich jetzt mal als Erwachsener, und sozusagen die Familie so zusammen bekommen wollte, dass sie sich eben damit auseinandersetzen müssen, was ist denn nun da los? Aber das war alles irgendwie nicht das Richtige. Ich war denn über anderthalb Jahre in der Charité in der Kinderpsychatrie. Bin dort auch zur Schule gegangen. Ich bin im Grunde genommen sehr früh meinen eigenen Weg gegangen und habe mein Leben gelebt, musste irgendwie für den jüngeren Bruder mit da sein. Den habe ich irgendwo versorgt, obwohl heute weiß ich es, ich manchmal sehr böse war, weil er mich einfach gestört hat. Er hat mich - auf Deutsch gesagt - angekotzt. Kann man ja nicht anders ausdrücken als Jugendlicher. Er hat mich behindert. Man ist nach Haus gekommen, Schularbeiten, dann wollte man auch, was zu DDR-Zeiten natürlich sehr gut war, waren diese Jugendclubs, was sie für die Jugend gemacht haben, kann man denen nicht absprechen, also, Sportverbände und die ganzen Zirkel und so weiter, war ja interessant, wenn man dementsprechend seine - wie sagt man dazu? - seine Ambitionen oder Interessen hatte, konnte man die ja wirklich weiterentwickeln und denen nachgehen, ohne dass es irgendwelche zusätzlichen Gelder gekostet hat. Er hat mich einfach behindert. Naja, so fing das an, dass ich, im Grunde genommen mein Leben für mich gelebt habe, meine Mutter - was ich damals noch nicht wusste - die war auch irgendwo psychisch krank. Wenn sie im Haus war, wir durften nicht runter, wir durften keinen Kontakt haben, wir, sie war auch nie in der Schule und hat irgendwie mit den Lehrern gesprochen oder sich um irgendwas gekümmert. Es gab sehr große Probleme in der Schule und da habe ich auf stur gestellt und habe mich einfach um keinen Lehrplatz gekümmert, den sie mir angeboten haben. Hat mich nicht interessiert, wollte ich nicht. Naja, und so kam es, dass die Schule mit meiner Mutter Verbindung aufgenommen hat, die konnte nun keinen Einfluss nehmen und so wurde eben beschlossen, dass ich den Ansprüchen nicht genüge, mich nicht drum gekümmert habe, sozusagen Verweigerung, einen Lehrplatz aufzunehmen. In denen ihrer Worte nach, so in eine asoziale Schiene abrutschte und dann kam ich in ein Durchgangsheim Alt-Stralau. Das war ein Haus mit Gittern dran, richtig Stacheldraht und Gitter. Die Türen waren alle auf. Diese Menschen, die nur Druck auf dich ausgeübt haben, konnten dich ja ständig einsehen. Ehe du da Kontakt gesucht hast, ehe du da irgendwie mit jemandem gesprochen hast, musstest du erstmal mit deinem eigenen Leid fertig werden. Man saß da wirklich, man wurde irgendwo hingesetzt. Waren viele, aber es war eine dunkle Masse für einen selber erstmal. Ich hab das nicht verstanden, ich hab es einfach nicht verstanden, was da passiert. Dann habe ich darauf gedrungen, meine Mutter zu sprechen oder sonst irgendwas, ich wollte die Polizei sprechen, das kann doch alles nicht wahr sein. Ja, ist natürlich immer, umso mehr ich ausgerastet bin, umso größer wurde der Druck dort. Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen habe und versucht habe, erstmal das alles zu verstehen. Und du hast ja keine Antworten bekommen. Du wurdest wirklich nur angebrüllt. Du hast für das, was da passiert ist, keine Antworten bekommen. Und dann hast du einfach, du musstest ja sehen, dass du überlebst, hast du gedacht, das wird schon alles gut. Die Alte - aber so habe ich gedacht, Entschuldigung, - die wird ja nun schon mal irgendwann kommen und dich holen und du hast dich dann einfach in dieser Gruppe integriert. Einfach bist du mitgelaufen. Bis eines Tages irgendein Erzieher ankam und sagte: Ja, du kommst jetzt da und dahin, Eilenburg, kannte ich nicht. Was ist das? Und dann wurdest du in so einem Massentransport, in so einem, wie Barkas war das, mit solchen Fensterchen, wurdest du reingesetzt und denn biste gefahren und gefahren und gefahren und gefahren und gefahren und gefahren und dann bist du in deinem Freundesland in Sachsen gelandet. Kamst du in den Jugendwerkhof. Da in die Aufnahme. Da wurde wieder dein ganzes Privatzeug weggenommen. Dann hast du erstmal wieder Einheitskleidung bekommen. Ja, dann kamst du zum Gespräch, wurde gesagt: So und so ist das. Du hast dich verweigert und du wolltest nicht und jetzt wirst du erstmal hier lernen, wie es ist, dich in der Gruppe als sozialistischer Mensch einzuordnen und du wirst jetzt erstmal lernen, eben deine Arbeit zu machen und dementsprechend, das war alles so larifari. Ich glaube, die haben immer die gleichen Sätze erzählt, wenn irgendein neuer dazukam. Aber du selbst warst ja erstmal nur mit dir beschäftigt und damit, irgendwo neue Umgebung, neue Menschen, irgendwo dich da wieder einzugliedern, dass du überleben kannst. Unser Tagesablauf war immer ein und das gleiche, aber war von früh bis abends durchstrukturiert. Die Freizeit war immer, dass du einfach nicht zum Nachdenken kommst. Die hing damit zusammen Hausausgestaltung, wenn irgendwelche Events waren, Hausaufgaben, Schule und Maschinenpflege, AK mit Fernsehen, Auswertung von dem "Schwarzen Kanal". Hier zum Beispiel Vorbereitung zum 7. Oktober, Wandzeitung, Gestaltung der Wandzeitung, "Schwarzer Kanal"-Auswertung, Basararbeiten, Kleiderpflege, Schule, Einkaufen, individuelle Gespräche. Die bestanden darin, wenn irgendwelche Auffälligkeiten waren, verhaltensmäßig oder sowas, dass dann ausgewertet wurde. Zum Beispiel Auswertung der Woche: Der Gruppenplan der Woche wurde inhaltlich eingehalten, die geplanten Termine wurden nicht verschoben. Am Sonnabend durchgeführte Brigadeversammlung der beiden Brigaden verlief das Ergebnis für beide Brigaden recht unterschiedlich. Gruppe 11 verlangte eine Rechenschaftslegung über die schlechte Arbeitseinteilung und Disziplin der Gruppe 12. Also, sozusagen die beiden Gruppen wurden auch immer gegeneinander irgendwie ausgespielt und es wurde von uns immer verlangt, irgendwelche Auswertungen von irgendeinem Thema, entweder Ernst Thälmann oder Walter Ulbricht oder sonst irgendwas. Du musstest da einfach, ja, im Grunde genommen das ungefähr abschreiben, was da im Buch stand, nur ein bisschen umschreiben und es war nur Zwang. Zwang, Zwang, Zwang, Zwang. Und fast jede Woche gab es eine Gruppenversammlung. Fast jede Woche gab es, nee, es gab jede Woche eine Gruppenversammlung. Irgendwelche, du warst schon so fertig und müde, dass du alles nur so gemacht hast, nur um deine Ruhe zu bekommen. Und die Problematik war, dort in Eilenburg waren viele, die in Torgau waren. Die sind da hingekommen wegen Entweichung aus der Gruppe oder Arbeitsverweigerung oder sonst irgendwas. Und diese Jugendlichen waren natürlich durch diesen Zwang dort noch zurückgezogener und aggressiver, also, es war, jeder hat für sich gekämpft. Jeder hat irgendwo für sich gekämpft. Und Torgau zu vergessen ist nicht eine Woche dort im Arrest. Es war kein Miteinander. Jeder hat das Beste für sich gesucht. Meine Strategie des Damit-Klar-Kommens lag im Legen durch viele Selbstverletzungen und viele wirklich Selbstmordversuche, die grenzwertig waren. Der eine Selbstmordversuch, da bin ich irgendwie an Medikamente gekommen, die habe ich geschluckt, da war ich ein paar Tage in der Krankenstation, und denn bin ich dort in den normalen Arrest als Strafe. Wie in Alt-Stralau, wo ich die Reinigungsmittel da getrunken habe. Bin ich auch in den Arrest gekommen. Die haben wahrscheinlich, die haben versucht, durch Härte irgendwie dieses in Griff zu bekommen. Psychologen, die hatten ja selber, das waren ja oft Erzieher dort, die selber keine ausreichende Bildung hatten oder so, die einfach, es sind ja leider Gottes auch viele als Erzieher in diese Jugendwerkhöfe und Heime gekommen, die eigentlich in der schulischen Ausbildung versagt haben. Für mich war die Frustration, diese Aggressivität anderer, anzugreifen, hat ja nichts gebracht. Deswegen habe ich das mehr auf meinen Körper umgewandelt und bin schon oft über Grenzen gegangen und viele Selbstverletzungen, viele Selbstmordversuche, die ich heute natürlich merke, durch die Knochenschmerzen und was weiß ich, was alles, was da alles ist, und, irgendwie so habe ich es überlebt. Ich hab mich selber eigentlich geschädigt. Um damit irgendwie klarzukommen.

Dann kamst du zum Gespräch und da wurde gesagt: Du hast dich verweigert und du wolltest nicht und jetzt wirst du erstmal hier lernen, wie es ist, dich in die Gruppe als sozialistischer Mensch

Der normative Anspruch der SED, der herrschenden Partei in der DDR, war die Entwicklung sogenannter sozialistischer Persönlichkeiten als Idealbild von Staatsbürgern, die ihre Lebensweise den Interessen des sozialistischen Staates und der Gesellschaft unterordnen.

einzuordnen und du wirst jetzt erstmal lernen, deine Arbeit zu machen.

Biografie

Carola Schüler, geboren 1958 in Ost-Berlin

Der sowjetische Sektor der Stadt Berlin umfasste den östlichen Teil. Ost-Berlin wurde zum Synonym für den kommunistischen Teil Berlins. Die DDR erklärte den sowjetisch besetzten Teil Berlins 1949 zu ihrer Hauptstadt. Seit 1961 waren Ost- und West-Berlin durch die Berliner Mauer geteilt.

, fühlte sich als Kind oft allein gelassen, weil die berufstätigen Eltern sie in die Wochenkrippe und dann in den Wochenkindergarten geben. Um nach der Trennung der Eltern die Familie wieder zusammenbringen, beginnt sie hilflos, sich selbst zu verletzen und Tabletten zu nehmen. Deshalb verbringt sie ihr erstes Schuljahr in der Kinderpsychiatrie der Charité.

Die psychischen Probleme der Mutter führen dann dazu, dass Carola sich und ihren jüngeren Bruder selbst versorgen muss. Dadurch ist sie oftmals überfordert, aber es führt auch dazu, dass sie beginnt, ihr eigenes Leben zu führen. Auch in der Schule will sie sich keine Vorschriften mehr machen lassen. Weil sie eine zugeteilte Lehrstelle ablehnt und keine Bewerbung abschickt, beschließt die Jugendhilfe ihre Heimeinweisung. Vergitterte Fester und Mauern mit Stacheldraht empfangen die 16-Jährige im Durchgangsheim Alt-Stralau

Das Durchgangsheim der DDR-Jugendhilfe befand sich im Berliner Stadtbezirk Treptow. Dort wurden Kinder und Jugendliche untergebracht, bevor sie auf andere Heime verteilt wurden. Zum Alltag gehörten Isolationsarrest, Essensentzug, Drill und erzwungene Arbeit.

. Carola versteht nicht, wofür man sie bestraft und hofft, ihre Mutter werde sie aus dieser Anstalt herausholen. Stattdessen setzt man sie in einen Transporter und bringt sie in den Jugendwerkhof

Jugendwerkhöfe waren Spezialheime der DDR-Jugendhilfe für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die als schwererziehbar galten. Sie sollten durch Arbeits- und Kollektiverziehung sowie ideologische Beeinflussung zu sogenannten sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden.

nach Eilenburg

Dem Aufnahmeheim in Eilenburg kam eine zentrale Rolle bei der Einweisung der Kinder und Jugendlichen in Spezialheime und Jugendwerkhöfe der DDR zu. Hier wurde die Verteilung festgelegt.

. Der fühlt sich an wie ein Gefängnis. Es gibt Anstaltskleidung. Harte Arbeit und ein streng geregelter Tagesablauf sorgen dafür, dass niemand Zeit für sich hat.

Sie wird in dieser Umgebung aggressiv, aber ihre Aggressivität richtet sich nicht gegen andere, sondern gegen sie selbst. Mehrfache Selbstverletzungen und Selbstmordversuche sind die Folge. Sie hat Glück, dass sie alle überlebt, aber an den gesundheitlichen Folgen leidet sie bis heute.