Ernst-Otto Schönemann

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Ich hab eigentlich eine relativ glückliche Kindheit gehabt, auch wenn ich die letzten Kriegstage bewusst schon miterlebt habe. Die Tannenbäume am Himmel und so. Mein Vater war nur kurz im Krieg. Er ist dann ziemlich schwer verletzt gewesen, ist in der Charité gewesen und später nicht mehr eingezogen worden und war dadurch zuhause. Und wir hatten auch ein gutgehendes Geschäft, natürlich in Kriegsjahren war es dann auch nicht so rosig, das ist klar. Und hinzu kam, dass mein Vater Elektromeister, Elektroingenieur, Klempnermeister und später in den fünfziger Jahren auch noch seinen Rundfunkmeister gemacht hatte. Das war nicht Schwerpunkt, aber Schwerpunkt war Klempnerei und Elektrik. Der erste Schnitt war schon 1945, als Niedersachsen abgeriegelt wurde, denn die ganzen Dörfer auf der anderen Seite, im Wendland, also, die nahe der Elbe lagen, die kamen ja alle nach Lenzen einkaufen. Die brachten mit der Fähre ihr Vieh rüber zur Bahn, um es zu verladen. Die haben ihre Produkte dort verladen. Und das war der erste Schnitt, der kam. Dann kam 1952 das Fünf-Kilometer-Sperrgebiet und die Fünfhundert-Meter-Sperrzone. Damit wurden schon mal die anderen Dörfer weitgehend abgeschnitten. Wir hatten natürlich viele Freunde unter den Bauern in den, ich weiß nicht, über dreißig Dörfern rundherum, die bei uns einkauften, aber die zum großen Teil auch Freunde waren. Und wenn irgendwas war, ich entsinne mich zum Beispiel auch an den 17. Juni 1953 sehr deutlich. Da lief bei uns im Laden den ganzen Tag das Radio, natürlich der RIAS, nicht irgendein anderer Sender, und viele kamen in den Laden, um mit uns drüber zu sprechen. Von den Funktionären war an dem Tag niemand zu sehen. Dann ging es um die Oberschule. Das war schon ein bisschen schwierig. Ich war kein junger Pionier und war auch konfirmiert. Und da hab ich ein bisschen Glück gehabt durch meine Tante. Sie war sehr schwerhörig schon und sie war hoch in die fünfzig, und Lehrer waren damals sehr knapp. Und da ist sie zum Kreisschulrat gefahren und hat gesagt: Wenn mein Neffe nicht zur Oberschule kommt, höre ich sofort auf. Und da hat der Kreisschulrat gesagt: Er kommt zur Oberschule. Dann durfte ich nicht studieren am Ende nach dem Abitur. Ich war nicht bereit, mich freiwillig zwei Jahre zur Armee zu melden. So habe ich bei meinem Vater gelernt und bin dadurch dann bis 1961 bei ihm angestellt gewesen als Geselle und habe wiederum über glückliche Umstände, die ich jetzt nicht im Einzelnen erläutern will, einen Studienplatz gekriegt für Elektrotechnik, über Empfehlung, über die Gewerkschaft Landwirtschaft, klingt ein bisschen komisch, aber ist so. Am 13. August, als wir von der Fahrt zurückkamen, als wir reinkamen in die Sperrzone, da war immer eine Kontrolle, die war zeitweise auch ein bisschen laxer, die war ganz scharf und so viele Leute haben wir vorher nie am Grenzkontrollpunkt gesehen, also, nicht am Grenzkontrollpunkt, sondern am Kontrollpunkt in die fünf Kilometer, in das Fünf-Kilometer-Sperrgebiet. Da sind wir schon ein bisschen stutzig geworden und haben es zuhause erfahren. Ja, und diese ganze Situation ist dann eskaliert, indem eigentlich eine einzige Angst umging: Wer ist diesmal dran? Denn das eine Aktion wieder kommen würde, darüber waren wir ziemlich sicher. Aber mein Vater hat immer noch gesagt, vierzehn Tage vor dem Termin ist er nochmal zum Bürgermeister gerufen worden und hat lobende Worte gehört über unsere Arbeit und der hat gesagt: Wir kommen nicht raus. Ja, und dann klingelt es früh zwischen sechs und sieben, genaue Uhrzeit kann ich nicht mehr sagen, aber es war näher an sechs als an sieben, und mein Vater schreit: "Wir müssen raus!" Der war der erste, der zum Fenster ging: "Wir müssen raus!" Wir haben dann unsere Sachen gepackt auf zwei LKWs, einen mit Hänger und der Hänger ohne Plane, nur die LKWs hatten eine Plane. Da stand dann auch noch unser Klavier drauf. Unterwegs hatten wir einen Wolkenbruch. Und nach vier Stunden hieß es dann: So, jetzt ist Schluss und Sie müssen abfahren. Und dann legte man meinen Vater einen Kaufvertrag für sein Haus vor, aber er konnt` sich natürlich nicht entschließen, diesen Hausverkauf zu unterzeichnen, weil die Firma hat mein Urgroßvater 1862 gegründet, das heißt, wir hatten am 1. September 1961 99-jähriges Bestehen der Firma. Das kann man nicht entscheiden, dass man alles weggibt, was das ganze Leben ausgemacht hat. Nun haben wir uns gefragt: Wo kommen wir hier hin? Und dann sind wir an das Haus rangekommen, ein einsam gelegenes Haus mitten auf einem Feld, so ein Einfamilienhaus. Von außen akzeptabel, und dann gingen wir rein und fragten den LPG-Vorsitzenden - nun muss ich wieder dazu sagen, es ist vieles im Leben Glück und Pech und hängt vieles von Menschen ab -, und der LPG-Vorsitzende war wirklich freundlich zu uns, während andere uns wie Aussätzige behandelt haben hinterher, komme ich vielleicht noch kurz drauf, der LPG-Vorsitzende war wirklich freundlich zu uns und hatte keinerlei schlechte Absichten und hat mit uns ganz offen gesprochen und hat sogar meine Mutter ein paar Tage zum Schlafen aufgenommen. Der hat gleich gesagt: Ja, das Haus haben wir dem Bezirk als unbewohnbar erklärt. Da hat zwei Jahre Getreide drin gelagert, das ist voller Ratten, da gibt es kein Wasser, da gibt es keine Toilette, da sind, das haben wir gesehen, große Löcher in der Haustür und in allen Türen von den Ratten durchgefressen - unbewohnbar. Ich konnte in den ersten Wochen meinem Vater als Elektroinstallateur noch helfen. Wir haben, er hat mit sechzig Jahren als sein eigener Geselle angefangen und ich sein zweiter Geselle sozusagen. Aufträge, muss ich sagen, waren ja genügend da. Wir sind dann in einen kleinen Ort bei Schwerin gekommen, Wüstmark nennt der sich. Haben da eine Wohnung in einem Haus bekommen von Leuten, die in den Westen abgehauen sind. Dass wir das bekommen haben nach etwa zehn Tagen, da spielt auch eine Rolle - wir haben uns eigentlich nur Propaganda oder diese Parolen, DDR-Parolen anhören müssen, mit was der Westen, Kriegstreiber, und die DDR musste die Mauer bauen, um Krieg zu verhindern -, und all diesen Quatsch, mussten wir uns tagtäglich anhören. Und einmal ist meine Mutter richtiggehend zusammengebrochen und das war ausgerechnet bei der Bezirksparteileitung. Da ist sie ins Schluchzen gekommen und völlig zusammengebrochen. Und da hat der das Thema abgebrochen und hat nur noch gesagt: "Frau Schönemann, gehen Sie zum Rat des Kreises, Ihnen wird geholfen." Und dann sind wir da hingezogen. Mein Vater hat, wie gesagt, angefangen und drei Jahre später hat er einen Betrieb in Schwerin übernommen, wo der Meister gestorben war und hat sich selbstständig gemacht. Die Wohnverhältnisse waren bis zum Lebensende meiner Eltern nicht rosig. Sie hatten zwar in einem schönen Haus in der Schloßgartenallee in Schwerin zwei schöne Zimmer, aber sie hatten Toilette und Bad gemeinsam mit einer Familie, die auch in der gleichen großen Wohnung wohnten. Aber die Wohnverhältnisse waren ja damals noch recht schwierig. Und insofern haben sie ein kleines bisschen noch was von ihrem Leben gehabt, aber es ist natürlich nicht das Leben, was vorher war. Seit 1971 wohnen wir hier in Berlin und haben uns ein vollkommen runtergekommenes Haus hier gekauft mit Glück, ein schönes Grundstück, und haben viel selbst gemacht und uns was daraus gemacht. Und ich bin inzwischen nach über vierzig Jahren in Berlin verwurzelt und fühle mich hier sehr wohl. Ich habe Anfang der achtziger Jahre am Institut für Nachrichtentechnik gearbeitet, da sollte ich Abteilungsleiter werden, durfte es nicht. Unser Abteilungsleiter war absolut kein Genosse, aber ein qualifizierter Fachbuchautor, und der hat mich vermittelt an den Verlag Technik, wo ein neuer Chefredakteur gesucht wurde, weil der andere in Rente ging. Ich hab mich dort vorgestellt. Da hat der Verlagsdirektor zu mir gesagt: Es gibt drei Bedingungen - erste ist fachliche, vollkommen klar. Zweite ist gutes Deutsch und die dritte Vorbedingung ist Parteimitgliedschaft. Ich sag: Mit eins und zwei kann ich dienen, denke ich, mit drei werde ich nicht dienen. Hab auch Gründe dafür genannt. "Ja", sagt er, "dann wird das schwierig werden. Dann wird es wohl nichts werden." Hat ein halbes Jahr gedauert, dann rief er an, sie haben keinen Genossen gefunden, der die anderen Voraussetzungen erfüllt und dann wurde ich eingestellt. Und das war eigentlich die freieste Zeit, die ich in der DDR beruflich gehabt hab. 9. November 1989 Ich hab fassungslos hier gesessen. Ich hab einen Kreislaufzusammenbruch gehabt, ich hab einen Tachykardieanfall gehabt, meine Frau hat den Notarzt geholt, die haben mich ins Krankenhaus gefahren am Abend noch. Allerdings war es in erster Linie nervlich bedingt. Und dann waren die nächsten Tage ganz schlimm, weil, was ich nie wusste: Ich hatte durch die Zwangsaussiedlung eine schwere Traumatisierung, die, solange die DDR als Deckel da war, unter der Oberfläche war, nicht rauskam, und die jetzt an diesem 9. November abends rauskam. Wir haben einige Ärzte im Freundeskreis und auch einen Psychiater. Ich bin zum Psychiater gegangen, ich konnte keinen Satz mehr sprechen, also, normal ja, wenn es um andere Dinge ging, aber sobald es um die politische Richtung, um die Vergangenheit ging, ich konnte keinen zusammenhängenden Satz mehr sprechen. Ich habe nicht mehr die Traumatisierung, die so schlimm ist. Und dass ich diese Traumatisierung losgeworden bin, das hängt mit dem Schritt in den Westen zusammen. Ich fühlte mich jetzt frei. Im Dezember 1989 zieht Familie Schönemann nach West-Berlin. Vier Jahre später kehren sie in ihr Haus nach Ost-Berlin zurück.

Was ich bis zum 9. November 1989 nicht wusste: ich hatte durch die Zwangsaussiedlung eine schwere Traumatisierung. Solange die DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

als Deckel da war, war sie unter der Oberfläche, kam nicht raus, erst als der Deckel weg war.

Biografie

Ernst-Otto Schönemann erlebt das Kriegsende in seinem Heimatort Lenzen am östlichen Ufer der Elbe. Am anderen Ufer beginnt Niedersachsen, also der Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

. Der Vater ist selbstständiger Elektro- und Klempnermeister und führt das Geschäft bereits in dritter Generation. Schönemanns sind aktiv in der Kirchgemeinde, Ernst-Otto darf nicht studieren und macht deshalb eine Ausbildung im väterlichen Betrieb.

Nach dem Mauerbau

Bezeichnung für den Beginn der vollständigen Abriegelung des Territoriums der DDR. Die Regierung der DDR schloss am 13. August 1961 die Grenze zu West-Berlin und begann mit dem Bau einer Mauer um Ost-Berlin, der sogenannte Berliner Mauer. Die Bevölkerung sollte gewaltsam gehindert werden, die DDR zu verlassen.

in Berlin 1961 werden die Kontrollen im Grenzsperrgebiet erheblich verschärft. Es herrscht Angst vor Zwangsaussiedlungen, wie es sie in den fünfziger Jahren schon gegeben hat. Eines Morgens kommen Volkspolizisten und SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Funktionäre

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

und fordern Schönemanns auf, das Haus zu räumen. In Ruhe packen dürfen sie nicht. Ihre Möbel werden bei strömendem Regen verladen. Der Vater soll einen Vertrag unterschreiben, mit dem er das Haus an den Staat abtritt. Er kann es nicht, ist das Anwesen doch seit 99 Jahren im Familienbesitz.

Schönemanns werden in einem abgeschiedenen Dorf vor einem unbewohnbaren Haus abgesetzt. Trotz aller Verzweiflung gelingt es den Eltern, einen Umzug in ein Dorf nahe Schwerin zu erwirken. Der Vater darf dort eine private Elektrowerkstatt übernehmen, deren Meister verstarb.

Ernst-Otto kann später doch noch Elektrotechnik studieren. Als er am Institut für Nachrichtentechnik in Berlin Leiter einer neu aufzubauenden Abteilung werden soll, verhindert die Staatssicherheit

Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) wurde 1950 als Nachrichtendienst und Geheimpolizei gegründet, die sich als „Schild und Schwert“ der SED verstand. Das MfS verfolgte Menschen, die Widerstand gegen das politische System leisteten, überwachte mit weitreichendem Spitzelsystem die Bevölkerung und war als Geheimdienst im Ausland tätig. Darüber hinaus war es Untersuchungsorgan und betrieb eigene Untersuchungshaftanstalten. 

, dass er als Parteiloser diese Aufgabe übernimmt.

Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, erleidet er einen völligen Kreislaufzusammenbruch. Das Erlebte hat tiefe gesundheitliche Spuren hinterlassen.