Harald Beer

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Na, das erste, was zu sagen ist: Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, und wenn ich nicht so alt wäre, könnte ich nicht über die Zeit berichten. In Berlin bin ich geboren, in Potsdam in einem Internat überwiegend zur Schule gegangen, mit einem Notabitur die Schule abgeschlossen. Das Notabitur bestand aus einer Karte, wo mir mitgeteilt wurde, dass ich also ohne jede Prüfung das Notabitur bestanden hätte, und das war im April 1945, genau auf meinem Geburtstag am 5. April wurde ich Soldat. Natürlich nicht gezogen, natürlich als freiwilliger Offiziersanwärter der ruhmreichen deutschen Armee - das war die Motivation. Ja, und da kam dann eben die große Überraschung, dass von all diesen großen Träumen im Nachhinein erkennbar wurde, dass es eine Verdummung, eine Verfälschung der Realitäten war. Und danach ist man dann so ziemlich wurzellos, weil die Grundlagen fehlen. Und in dieser wurzellosen Zeit mit Tramping als - wohlgemerkt Sechszehnjähriger - durch westdeutsche Lande mit Tricks, mit Kartenspielen und so weiter sich durchgeschlagen. In Essen im Bergwerk gewesen, weil dort mein erste Liebe - unglaublich platonisch - lebte und ja, und so weiter und so fort. Und dann kam ich das erste Mal über die grüne Grenze, also von der britischen Besatzungszone in die sowjetische Besatzungszone. Da wurde ich das erste Mal geschnappt, weil ich - als mich der Russe fragte, wieviel Russen ich erschossen hätte, ich war ja in Wehrmachtsuniform -, und ich sagte: "Leider keinen." Und der Dolmetscher, dieses Arschloch, entschuldigen Sie, übersetzte das dann mit dem Erfolg, dass ich nicht nach drei Tagen wieder rauskam aus dem Keller, sondern erst nach acht Tagen, ohne Essen natürlich. Es war kein gutes Leben. Infolgedessen in dieser Zeit, Pflicht war ja alles nicht mehr üblich, machte ich Fahnenflucht, so kann man das zu dieser Zeit sehr wohl noch nennen, ob noch die Todesstrafe drauf stand, weiß ich allerdings nicht, aber jedenfalls machte ich Fahnenflucht und wollte zur Handelsmarine nach Stralsund. Denn dort, wurde mir gesagt, hätte man die Chance, noch jemanden, ein Schiff zu finden. Ich ging also, bei Zarrentin übrigens, wieder über die Grenze Richtung Stralsund, meldete mich dort an polizeilich und jobbte, was weiß ich, eine Woche, vierzehn Tage oder sowas, im Hafen, aber gleichzeitig natürlich zum Hafenkommandant, dass ich eingetragen werde in dem Buch, weil ich ein Schiff suche. Und der sagte mir: "Das dauert noch ein halbes Jahr." Ein halbes Jahr in Stralsund rumzusitzen, hatte ich auch keine Lust, also packte ich meine Koffer, besuchte meine Mutter nochmal in Berlin und fuhr dann wieder Richtung Essen. Wollte ich fahren, wollte ich fahren! In Zarrentin wollte ich wieder über die Grenze, und dann riefen, sprach mich eine Frau im Gasthof an, wo ich übernachtete und sagte: "Ich hab gehört, Sie sind schon öfters über die Grenze gekommen?" Ich sag dann: "Ja, und?" "Ja, meine Kinder sind in Lübeck und ich muss unbedingt meine Kinder sehen, können Sie mich nicht rüberbringen?" Ich sagte: "Ich kann Ihnen den Weg zeigen, ist doch gar kein Problem. Aber lassen Sie mich erstmal zu Ende essen." Ja, und dann gingen wir halt los, einen hübschen Spaziergang durch den Wald, wir unterhielten uns und dann kamen wir zum Waldrand und dann sagte ich: "Sehen Sie da drüben den Bauern auf dem Feld? Das ist schon die britische Zone. Und dann wünsche ich Ihnen noch alles Gute!" Und dann nahm sie eine Zigarette, steckte sie mir in die Brusttasche und verschwand und ich machte kehrt. In der Nacht wurde ich verhaftet von zwei deutschen Polizisten, ruckizucki, ohne jedes Gespräch oder sonst irgendetwas, zum Russen gebracht und sehr bald nach Schwerin gebracht, nee, pardon, jetzt habe ich mich verfahren, nicht nach Schwerin, nach Wismar gebracht. Das war im November 1946. Dann saß ich in dieser Jahreszeit mit radikalen Tiefsttemperaturen in einem Keller, ganz allein, Eiszapfen hingen an den Wänden, hatte an ein Jackett, ein Hemd, eine Hose, Socken und Schuhe natürlich und ein Käppi. Ich hatte das Glück, weil ich die Zigarette hatte, als Grenzführer ja nur verurteilt zu werden, ´ne Bagatelle. Und als Bagatelle bekam man eben nur fünf Jahre. Wenn man die Zigarette nicht gefunden hätte, natürlich hätte man mich verurteilt, denn ich war ja in den Klauen, und einen Grund findet man immer. Dann hätte man vielleicht gefunden eine Spionage oder Sabotage oder was weiß ich. Und dann hätte ich vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre bekommen. Und das, was in Wismar noch nicht zu erkennen war, das machte dann später in Sachsenhausen schon einen großen, großen Unterschied. Ankunft im Speziallager Sachsenhausen Und betraten zum ersten Mal die Lagerstraße im Ostlager Zone II, Sonderlager Nummer 7, Sachsenhausen. Eine Straße, so breit wie eine Einbahnstraße mit schmalen Fußwegen, rechts eine durchgehend weiße Mauer, links eine durchgehend weiße Mauer, elektrisch geladener Stacheldraht auf der Mauerkrone. Zu Beginn der Straße zwei Riesen-Scheinwerfer, so ähnlich wie Luftwaffenscheinwerfer, die die Mauer entlang leuchteten, die verlor sich - das schätze ich mal mehr, ich weiß genau, die Maße müsste ich aber nachschauen - vierhundert Meter weit sich gerade lang erstreckte. Es war dunkel. Über uns also eine absolute Schwärze, rechts und links weiße, grellweiße, drückende Wände und wir standen dort am Anfang und sahen in diese Schlucht hinein. Es war für mich und auch in der Erinnerung, ja, der schlimmste oder einer der schlimmsten, hm, was soll die Gewichtung, ein schlimmer Eindruck, ein richtiges Zeichen dafür, was bevorstand. Wir betraten einen sandigen Hof, rechts eine Baracke, links eine Baracke, in der Mitte ein Scheinwerfer, Ratten huschten in die Dunkelheit. Wir gingen zur linken Baracke, die Tür wurde geöffnet, der Barackenälteste trat raus - natürlich ein Deutscher. Die liebevollsten Kameraden, die man sich vorstellen kann - ohne Rücksicht auf Verluste. Ich bekam einen Platz, aber bevor ich diesen Platz bekam, betrat ich den Raum. Es ist ein eigentlich nicht zu beschreibender Eindruck. Stellen Sie sich vor, in einer hundertfünfzig, knapp hundertfünfzig Meter langen Barackenhälfte hängt vorne eine einzige Glühbirne. Wieviel Licht ist in dieser Baracke? Und an den Barackenwänden, an den Längswänden stehen dreistöckige Pritschen. Der Zwischenraum dazwischen, ja, in meinem Fall war ja sogar noch Platz für einen Tisch, aber ist denkbar eng. Die Baracke verliert sich in die absolute Dunkelheit. Und auf den Pritschen, wenn man hier reinkommt, sieht man nur hohlwangige glatzköpfige Köpfe, dicht an dicht auf drei Etagen. Die Pritsche bestand aus nackten, kahlen Kiefernbrettern, mit großem Abstand voneinander, denn die Abstände, die entstanden, weil das überflüssige Holz zum Verfeuern für den Ofen verbraucht wurde. Wie gesagt, ich hatte kein Gepäck, keine Decke, kein Mantel oder sonstwas. Die Nachbarn, die ich nicht kannte, rutschten zur Seite, der eine wollte wohl am Rand liegen bleiben, ich quetschte mich dazwischen, einer legte seinen Mantel unter mich und dann kuschelte man sich aneinander. Die ganze Reihe über lagen alle auf der gleichen Seite. Dicht an dicht wie Löffelchen. Und wenn sich einer drehte, das ist nicht übertrieben, wenn sich ein Einziger drehte, muss sich die ganze Reihe drehen. Weil sonst der Platz nicht ausreicht. Die Enge und die Überfüllung lässt sich nicht vorstellen. Aber wenn man sich die versucht vorzustellen, wird einem automatisch klar, wie der Tag abläuft. Nämlich mit absolutem Nichtstun. Der Platz ist einfach nicht da, um etwas zu tun. Das heißt, man sitzt auf der Koje, man liegt auf der Koje. "Koje" ist gut gesagt, "Pritsche" ist ja wohl richtiger. Paar sitzen unten, richtig. Tagsüber, die Scheiben sind mit dicker grüner Farbe geschlossen, bestrichen, damit kein Tageslicht reinkommt. Das heißt, am Tage ist es fast so dunkel wie in der Nacht, mit einer Glühbirne vorne am Eingang. Die hygienischen Verhältnisse waren gut. In der Mitte - eine Baracke hat zwei Flügel -, in der Mitte lag ein Waschraum und eine Toilette. Es war ständig fließend Wasser da. Die Toiletten hatten Wasserspülung, soweit war das in Ordnung. Natürlich gab es keine Seife, natürlich gab es keine Handtücher, natürlich gab es nichts weiter, aber es gab fließend Wasser, so viel man haben wollte. Die Hauptbeschäftigung bestand für viele aus Essen. Nicht etwa, weil es so viel gab, oh, nein, nein, nein. Es gab morgens über lange Zeit das, was wir Erbstee nannten. Erbstee war die Frühlingssuppe, nannte sich Erbsensuppe. Stellen Sie sich einen normalen runden Müllcontainer vor. Nicht Container, so eine Mülltonne meine ich. Wenn man da den Deckel aufmacht und den mit gelbem Wasser füllt, dann haben Sie eine Vorstellung davon, wie die Erbsensuppe aussah. Man sah durch bis auf den Grund. Um die Sämigkeit der Suppe darzustellen. Und unten auf dem Grund schwammen vielleicht ein oder zwei Hände voll Erbsschalen. Und dann ging man da ran mit seiner Schüssel und man bekam eine Kelle, einen halben Liter von dieser Erbssuppe. Nährwert Null. Dann gab es auch noch Tee. Der war heiß. Aber sonst auch nichts. Wenn er noch heiß war. Mittags gab es dann einen Eintopf. Oft Graupen, Gemüse. Ich habe in dem Eintopf, in dem Mittagessen, solange ich zurückdenken kann, nie ein Stück Fleisch gehabt. Laut Speisekarte war da Fleisch drin. Aber das kam nicht bei uns unten bei den Parias an. Die ersten, die sich das Dicke rausholten, waren die Küchen-, dann die Essenträger und dann natürlich, wenn die Kübel in der Baracke ankamen, die wurden dann auf dem Gang zwischen den beiden Flügeln abgestellt, da wurden die Türen zugemacht und dann bedienten sich die Barackenältesten, ihre Schlägertrupps, ihre anderen Hilfsmittel, die bedienten sich. Die konnten sich Bratkartoffeln mit Fleisch braten. Was bei uns unten ankam, das war nichts mehr. Ja. Und dann kam der große, große Augenblick. Das Wahnsinns-Wunder. Die Minderjährigen. Nicht etwa die Minderjährigen nach dem Alter, sondern die Minderjährigen an Strafe, also, die, die unter zehn Jahren hatten, kamen raus, aus der zweiten Zone in die erste Zone. Und wenn ich an die Baracke 35 denke, wo ich dann dort lag, eine sehr große Baracke, weiß ich nicht, wer war interniert oder wer war Strafgefangener? Da lagen dann die Bäcker, da lagen Leute vom Theater, da lagen die Buchdrucker und da lagen wir, die für das Außenkommando. Wir gingen nicht jeden Tag zur Arbeit, nein, Außenkommando war für uns relativ selten, für die Dreijährigen nahezu täglich. Die fuhren raus, um Kartoffeln und Gemüse einzuladen, und dazu gehörte Jochen Kaupke, dem ich sehr viel zu verdanken habe und den ich einen Freund nenne. Und insgesamt gesehen nenne ich drei Personen meine Freunde. Im Januar 1950 wird Harald Beer entlassen. Erst in der S-Bahn, als der französische Sektor erreicht war, da hat das große Ausatmen, jetzt sind wir also wirklich raus. Bis zur letzten Minute die Angst, dass immer noch was dazwischen kommen kann. Am Bahnhof Oranienburg bei der Entlassung, die Menschen, die dort standen, nach Angehörigen fragten - wer konnte Antwort geben? Die Nachwirkungen, also, das, was ich jetzt verspüre, die traten erst, ja, ich würde sagen in den neunziger Jahren oder noch später, ja, Anfang dieses Jahrhunderts, 2002 oder sowas auf. Nee, etwas früher. Als die Mauer fiel, als ich das erste Mal in Sachsenhausen war wieder, da begannen Nachwirkungen. Ja, da begannen Nachwirkungen. Die Empörung. Keiner wusste was davon, dass da ein Lager gab, keiner ahnte, was es dort an Verbrechen gab. War absolutes totes Schweigen. Man steht als Opfer vor seiner eigenen Motivation, vor seiner, vor der Fähigkeit, vor sich selber gradestehen zu können. Man ist Opfer, man ist nicht etwa Held. Man ist Opfer seiner, seiner Einstellung. Und demnach muss man handeln. Man kommt da gar nicht raus.

Bis 1989 wusste keiner was davon, dass es da ein Lager gab. Keiner ahnte, was es dort an Verbrechen gab – es war absolutes totes Schweigen.

Biografie

Harald Beer will Offizier werden und zur See fahren. Der Berliner ist in Potsdam im Internat, um dort sein Abitur zu machen. Harald meldet sich noch Anfang April 1945 als Freiwilliger zum Kriegsdienst. Mit dem Kriegsende bricht für den 16jährigen jede Orientierung zusammen. Er fährt hin und her, wechselt die Besatzungszonen, ist manchmal einfach Überlebenskünstler.

Immer mal wieder besucht er seine Mutter in Berlin. Schwarz über die Zonengrenze zu gehen, das ist für ihn Routine. 1946 will er bei einer Einheit anheuern, in der ehemalige Angehörige der deutschen Kriegsmarine in britischem Auftrag Seeminen räumen. Dann hofft er, man ließe ihn vielleicht in der sowjetisch besetzten Zone zur See fahren und „desertiert“, wie er es damals empfindet.

Weil er auf die Entscheidung warten muss, beginnt er wieder, durch Deutschland zu reisen. An der Zonengrenze bei Zarrentin trifft er auf eine Frau, die sich nicht auskennt und weist ihr den Weg aus der sowjetischen in die britische Zone. Tags darauf wird er dafür verhaftet.

Das Sowjetische Militärtribunal in Wismar verurteilt ihn als Grenzführer zu fünf Jahren Lagerhaft. Beer wird nach dem Urteil ins Speziallager

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

gebracht. Von jetzt an gehört auch er zu den ausgehungerten Gestalten in den überfüllten Baracken. Er hat das Glück, den Hunger, die Enge und die erzwungene Tatenlosigkeit zu überleben. 

Im Januar 1950 wird Harald Beer entlassen. Als ihn die S-Bahn über die Grenze des französischen Sektors fährt, er also in West-Berlin

West-Berlin war der von den West-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besetzte westliche Teil Berlins. West-Berlin war umgeben von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR. Seit 1961 riegelte die Berliner Mauer mit tödlicher Grenzanlage Ost-Berlin ab.

ist, fühlt er sich befreit.

Erst im Rentenalter hat Harald Beer die psychische Kraft, seine Lebenserinnerungen aufzuarbeiten und aufzuschreiben.