Jürgen Bleick

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Ich bin eigentlich ein waschechter Rhinower. Bin hier in Rhinow geboren und habe eigentlich eine ziemlich, ja, bis 1944 eine ziemlich gute und schöne Kindheit verbracht. Aber dann, mein größter Schock war der, dass mein Vater eben 1944 gefallen war oder gefallen ist und da denn eigentlich so diese, diese ständige Belastung kam, dass man immer eben im Hinterkopf hatte, dass ein Familienmitglied fehlte und dadurch eben alle Feierlichkeiten und Weihnachten und so was beeinträchtigt waren. Und zum anderen kam noch dazu, dass ja in den Fünfzigerjahren, ich bin 1951 aus der Schule gekommen, die Lehrstellenfrage und das Lehrstellenangebot und Schulangebot nicht sehr groß war und ich mich da, ja, verpflichtet gefühlt habe, die Werkstatt, die Schneiderei hier in Rhinow von meinem Großvater weiterzuführen und habe denn nachher natürlich die Lehre als Schneider 1951 angefangen. Und habe die dann auch beendet und auch mit einer Meisterprüfung beendet und war all die Jahre selbstständig, also, ich sage mal, man hat eben die Zeit im Krieg und nach dem Krieg schon recht bewusst gelebt. Aber da man hier kein Geld verdienen konnte in der Schneiderei und naja, im Bauhaupt- und -nebengewerbe besser honoriert wurde und da gab es ja öfter mal ein Trinkgeld oder ein Bakschisch, aber in der Schneiderei wenig. Ich habe denn aufgehört als Schneidermeister und hab einen anderen Beruf angefangen, war denn Handelsleiter, hab nochmal fünf Jahre Landwirtschaft studiert im Fernstudium und war nachher bis zur Wende in unserer Rhinower Agrargenossenschaft hier, in der LPG, nicht Agrargenossenschaft, als Leitender Mitarbeiter tätig. Habe aufgrund dessen, ich sollte hier in Rhinow mal BHG-Leiter werden, aber aufgrund dessen, dass ich ja kein Genosse war, ich hatte mich in die LDPD abgeseilt, um dem Druck aus dem Wege zu gehen, durfte ich das nicht. Dass diese Position als Betriebsleiter für einen Blockfreund eben nicht richtig wäre. Von allen Dingen, was doch sehr beeindruckend für mich war, ist das, was sich nachher auch da drin bestätigt hat, als wir hier mal über die Böhner Geschichtswerkstatt über den 17. Juni recherchiert haben. Dass man das eben auch am eigenen Leibe oder in der Verwandtschaft erlebt hat, unter welchem Druck und unter welchen Repressalien eben die Bauern hier bei uns und auch die Handwerker, aber insbesondere die Bauern standen, die dann eben ohne Rücksicht auf Bodenwertzahlen oder Viehbestände zum Soll verdonnert wurden, und wenn sie das nicht erreichten, dann durften sie nicht mehr alleine ein Schwein schlachten und hatten nicht mal alleine was zu essen, und das war für die Betriebe doch sehr schwierig und ja, wirklich sehr schwierig. Und gerade am 17. Juni hatten wir dann Berufsschule und sind morgens um 7 mit dem Zug nach Rathenow gefahren. Und da war es dann eben so, dass in Rathenow eigentlich das noch relativ ruhig war. Aber denn so, ich möchte mal so sagen, gegen 9, halb 10, 10, so genau weiß ich das aber auch nicht mehr, war das eben so, dass dann dort in der Fabrikenstraße eben mit einem Mal Krach auf der Straße war und Menschenmengen dort kamen und protestierten und Parolen riefen und wir das hörten in der Schule. Ich kann mich noch dran erinnern, ich möchte sagen, da war das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Das ist das, wo heute oder wo die, ja, was war denn da drin? Die Berliner Bank drin war, in der Berliner Straße, damals Stalinallee, und dass dort auf dem Balkon Reden gehalten wurden. Aber ich weiß auch nicht, ob es da denn schon Plakate gab oder ob da Fahnen mitgeführt wurden und wann, weiß auch nicht, welcher Art. Also, das ist mir nicht mehr in Erinnerung. Aber ich weiß, dass dort Reden gehalten wurden, und dass dort einige Leute auf diesem Balkon standen und denn ging ja nachher auch, dann hatte man ja diesen Herrn Hagedorn sich dort gegriffen oder sich den dort habhaft gemacht und das ging ja nachher denn mit dem dann richtig los. Und auch auf diesem Balkon und vor diesem Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Wilhelm Hagedorn war nach Kriegsende Leiter der politischen Polizei in Rathenow. Durch ihn wurden mehr als 300 Menschen von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet. Damit prahlte er öffentlich. Das wurden ja immer mehr Menschen und man hat gesehen, wie sie den dort auch verprügelt haben und ich möchte sagen, man hat auch versucht, so ist mir das noch Erinnerung, dass man den Herrn Hagedorn oder Genossen Hagedorn eben dort am Balkon des Gebäudes, des Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, oder waren das eben bloß große Fenster, die zur Straße rausgingen, ich möcht sagen, das war ein Balkon, und dass man versucht hat, den da aufzuknüpfen. Aber das hat man denn sein lassen und man hat ihn ja dann bis zur Havel dort, bis zum Hafen, bis zur Schleuse hier geschleift und geschleppt. Und dort hat man ja versucht, ihn dann zu ertränken und hat ihn da reingeschmissen und immer wieder mit einem Kahnpetschel auf den Kopf geschlagen, also, das möchte ich sagen, dass man da noch, weiß nicht, sind wir auf die Schleusenbrücke gegangen dort oder auf die Havelbrücke, dass wir da noch was von mitgekriegt haben. Auf Wilhelm Hagedorn richtete sich der gesamte angestaute Volkszorn. Er starb noch am 17. Juni 1953 an seinen Verletzungen. Ich denke mal, wir waren eigentlich irgendwie auch euphorisch und waren eigentlich der Meinung, das System und dass es jetzt anders und besser wird. Und vielleicht bringt das auch da, zeichnete sich auch da drin ab, denn als wir nach Hause fuhren mein Freund und ich, denn haben wir eben unser Buch von Marxismus-Leninismus einfach mal schnell aus dem Zug geschmissen. Aber dann, als wir am nächsten, ich möchte sagen, das war dienstags, der 17. Juni, am Freitag wieder zur Berufsschule mussten, ja, dann mussten wir sehen, dass wir ohne das Buch klar kamen und uns da irgendwie was besorgen.

Wir waren irgendwie euphorisch und der Meinung, dass das System jetzt anders und besser wird.

Biografie

Jürgen Bleick ist in Rhinow geboren und in Rhinow geblieben. Als der Vater 1944 im Krieg getötet wird, soll Jürgen die Schneiderwerkstatt des Großvaters übernehmen. Nach Kriegende beginnt er, das Schneiderhandwerk zu erlernen.

Zur Berufsschule muss er nach Rathenow fahren und das macht er auch am Morgen des 17. Juni 1953, dem Tag des Volksaufstands. Als er vom Bahnhof zur Schule geht, ist die Stadt noch ruhig. Doch als der Unterricht beginnt, ist aus der Stadt der große Aufmarsch zu hören.

Jürgen Bleick erinnert sich an eine große protestierende Menschenmenge vor dem Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Das Gebäude ist von Aufständischen besetzt und vom Balkon werden Reden gehalten. Dann entdeckt die Menge den verhassten Leiter der Politischen Polizei in Rathenow, Willi Hagedorn. Er ist verantwortlich für die Verhaftung von mehr als 300 Rathenowern durch die sowjetische Geheimpolizei. Auf ihn richtet sich der angestaute Volkszorn. Jürgen sieht, wie Hagedorn durch die Straßen zur Havel getrieben und schließlich von ein paar Männern in den Fluss geworfen und mit den Rudern der Kähne auf ihn eingeschlagen wird.

Als die sowjetischen Truppen eingreifen, sitzt er schon im Zug nach Hause. Er hofft, dass sich das politische System ändern wird. In dieser Stimmung wirft er das Lehrbuch für Marxismus-Leninismus aus dem Zugfenster. Als der Volksaufstand

Am 17. Juni 1953 fanden in der gesamten DDR Streiks und Demonstrationen statt. Die Aufständischen forderten: Rücknahme der Normerhöhungen, Freilassung der politischen Häftlinge, Schluss mit der SED-Herrschaft und freie Wahlen. Sowjetisches Militär schlug den Aufstand nieder. Über 50 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt, über 1.200 zu Haftstrafen verurteilt. Die SED diffamierte den Aufstand als faschistischen Putsch.

scheitert, muss er sich ein neues besorgen.

Später studiert er Landwirtschaft und ist bis 1989 leitender Mitarbeiter einer LPG

Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) waren die unter staatlichem Druck (Zwangskollektivierung) ab 1952 erfolgten Zusammenschlüsse von Einzelbetrieben. Nahezu alle landwirtschaftlichen Betriebe der DDR wurden in LPGen zusammengeschlossen. Daneben gab es noch Volkseigene Güter.

. Betriebsleiter kann er jedoch nicht werden, denn er ist nicht Mitglied der SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

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