Manfred Lutzens

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Ich als gebürtiger Brandenburger bin in die Roland-Schule gegangen, und das acht Jahre lang, im Zentrum der Havelstadt, und besuchte anschließend die Theodor-Neubauer-Oberschule auf der Domhalbinsel, die praktisch in den Gebäuden war, wo sich einst die so bekannte Ritter-Akademie befand, und habe dort im Jahr 1958 mein Abitur gemacht. Und zwischenzeitlich gab es bei mir aber schon sehr starke Prägungen dahingehend - auch bedingt vermutlich durch das Elternhaus -, dass ich politisch doch sehr stark interessiert war und ständig schon einen Widerwillen in mir entwickelt habe gegen die damalige DDR. Ich war beispielsweise nie in den Jungen Pionieren, bin auch damals noch konfirmiert worden 1954 in der benachbarten St.-Katharinen-Kirche und habe mich mehr oder weniger immer versteckt, was ja damals einfach vonnöten war, gegen die Politik geäußert, die in der DDR für gut geheißen wurde. Auch in der Oberschulzeit versuchten wir, doch so über die Runden zu kommen, dass wir nicht unbedingt immer als stramme FDJler marschieren mussten und sind eigentlich gerade in der Neubauer-Schule damit sehr gut gefahren. Abgesehen von vielen Erinnerungen als Kind beim Angeln oder von der schönen Zeit in der Badeanstalt Brandenburg oder als wir Fußball gespielt haben auf Straßen und Plätzen oder auf den großen Trümmerflächen ist für mich die gravierendste Erinnerung nach wie vor die an den 17. Juni 1953. Es gab ja in Brandenburg schon vor diesem so denkwürdigen Tag, nämlich am 12. Juni eine - wie sagt man? - Demonstration wahrscheinlich, die man bis dahin nicht kannte. Es waren ja nur die vorgegebenen Propagandaaufmärsche zu den sogenannten gesellschaftspolitischen Höhepunkten, denn diese Demonstration war spontan und konzentrierte sich auf die Steinstraße, nämlich dort, wo sich das Gefängnis der Stadt befand. Da befand sich neben dem Gefängnis auch das Kreisgericht. Und Anlass für diese Demonstration war, dass man den Fuhrunternehmer Taege dort inhaftiert hatte. Man hatte den Fuhrunternehmer Taege ja beschuldigt, dass er Wein sich aus dem Westen besorgt hatte und zum anderen für seinen Speditionsbetrieb ein Pferd gekauft hatte, ohne die entsprechenden Genehmigungen der zuständigen Behörden zu haben. Und das ist natürlich einfach unvorstellbar in der heutigen Zeit, wie man hier mit den Leuten, das heißt auch mit dem Mittelstand umgegangen ist. Und das alles führte dazu, dass man Taege inhaftiert hatte und da ohnehin die Stimmung schon erheblich brodelte in der DDR, nahmen die Arbeiter seines Betriebes das zum Anlass und in der weiteren Folge scharrten sich immer mehr Brandenburger an dem besagten 12. Juni schon um sie herum und sie zogen dann zum Gericht, ist ja nicht Amtsgericht. Und daraufhin wurde ja denn Täge auch entlassen. Der 17. Juni war in unserer Schule, in der Roland-Schule von einer ganz besonderen Atmosphäre gekennzeichnet. Denn schon nach der 2. Stunde kam unser Klassenlehrer, der oft im FDJ-Hemd erschienen war, offenbar um die Kunde vom Sozialismus besonders stark zu verbreiten und ein völlig überzeugter Lehrer war und sagte uns, wir sollten schleunigst nach Hause gehen. Er selbst entkleidete sich seines FDJ-Hemdes und versteckte sich in den Kellerräumen der Schule. Und uns wurde alsbald klar, warum. Denn nur wenige Meter von der Schule entfernt - wir waren natürlich als Jungen nicht nach Hause gegangen, waren neugierig geworden - sahen wir schon unübersehbare Menschenmengen im Zentrum der Stadt, also in der Haupstraße/Ecke Steinstraße, auch rund um den Neustädtischen Markt und um den sogenannten Aktivistentempel. An dem Gemeindehaus selbst prankten seit einigen Tagen schon mehrere Plakataufkleber mit Hetze gegen die Junge Gemeinde und dann war ja an diesem Fachwerkhaus ein Spruch mit Farbe geschmiert worden hier, dass die Junge Gemeinde die Tarn- und Spionageorganisation des USA-Imperialismus war. Das bloß noch als Anmerkung dazu, ehe ich dazu komme, dass wir ja denn, mein Schulfreund und ich, uns mit einreihten als der gesamte Zug der Menschenmassen - es war unvorstellbar, was da los war, welch ein Gebrodel, brodelndes Erwarten auch unter den Leuten war - sich dann formierte und wir ohne zu bedenken, uns eventuell in Gefahr zu begeben, dass wir mitgezogen sind. Das ging dann in Richtung Hauptstraße, nämlich zur Altstadt in Brandenburg, wo der Sitz des Oberbürgermeisters war. Und unterwegs beispielsweise wurden dann vom Metropol-Kino in der Hauptstraße die Schilder, die Transparente abgerissen und dann kam ein alter DKW angetuckert, den Aufständischen entgegen. Und man machte die Tür auf und sah, dass ein SED-Genosse drin war, riss ihm das Abzeichen ab und er kam schloddernd heraus. Dann ging es weiter über die Jahrtausend-Brücke in die Altstadt. Man hat denn auch noch von der Geschäftsstelle der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft VdgB ein Transparent, die ja überall zuhauf seinerzeit die Städte schmückten in Anführungsstrichen, heruntergerissen und formierte sich dann alsbald wenige Minuten später vor dem Haus, wo die Stadtverwaltung ihren Sitz hatte und dort war ja auch die Polizei untergebracht. Es bildeten sich dann Sprechchöre. Sprechchöre in der Form, dass man rief: "Kühne raus! Kühne raus!" Und damit meinten die Arbeiter und anderen Aufständischen den Oberbürgermeister. Kühne war ein dermaßen verhasster OB in Brandenburg gewesen und man wollte ihn wohl nun zur Aussprache stellen, wollte ihm vermutlich die Forderung der Brandenburger kundtun und dergleichen. Aber es tat sich nichts. Es öffnete sich nicht das große Tor neben der Stadtverwaltung, neben dem Stadthaus, sondern auf einmal peitschten Schüsse. Das Haus, einst ehemaliges Zuchthaus gewesen und Königliche Strafanstalt auch, hatte noch eisen-, kleine eisengerahmte Fenster. Und aus einem dieser Fenster schienen die Schüsse gefallen zu sein und die Menge stob auseinander. Sie versuchten, sich in dem Moment angsterfüllt im angrenzenden Humboldt-Hain zu verstecken oder Deckung zu finden und dann auf einmal rollten zugleich, im gleichen Moment die Panzer heran. Und es gab ja dann auch am gleichen Tage noch eine Ausgangssperre, die aber erst später wirksam wurde in Brandenburg. Denn ich war noch am frühen Nachmittag wieder in die Innenstadt gelaufen und auf dem Neustädtischen Markt loderten kleine Haufen, wo unter anderem aus dem Haus der Einheitsgewerkschaft FDGB wie auch anderswo Plakate, Transparente, Mainelken, Bilder und auch Büsten von den hohen Parteifunktionären sich inzwischen angesammelt hatten, dass man die dort angezündet hatte und das verbrannte. Und das habe ich auch noch gesehen und war auch nochmals dann an der Stadtschleuse gewesen, wo sicher am Stadtkanal die von der SED einst beschlagnahmte Villa für Kreisleitung befand und von dort hatten die Arbeiter am Vormittag des 17. Juni, am frühen Vormittag bereits auch diverses Propagandamaterial, Broschüren, aber auch Schreibmaschinen und vor allem rote Fahnen in den Stadtkanal geworfen. Und im Nachhinein machte sich in Brandenburg eine Nachricht breit, dass es hieß, es wären mehrere Aufständische getötet worden. Das war aber gottseidank nicht der Fall. Aber im Laufe der Jahre sickerte es denn immer mehr durch, dass es einen derjenigen, die sich dort auf dem Nikolaiplatz versammelt hatten, getroffen hatte im wahrsten Sinne des Wortes - er hatte einen Kopfschuss erlitten und musste mit lebensgefährlichen Verletzungen ins hiesige Krankenhaus gebracht werden zur Operation. Man konnte ja als so junger Mensch das auch gar nicht richtig einordnen letztendlich. Aber man wusste davon, wie man gegen die Bauern vorgegangen ist, gegen die privaten Gewerbetreibenden und so, mit welchen rigiden Maßnahmen da schon versucht hat, eben das SED-Regime total durchzusetzen, ja. Und dann wie gesagt, ich war ja immer bestens informiert durch RIAS Berlin, ob das die Nachrichten war oder "Aus der Zone, für die Zone", was ja nach den 19-Uhr-Nachrichten kam, oder auch aus der jeweiligen Presseschau, die ja dann mittags lief oder auch morgens schon. Ich hatte einen Sportunfall in der Oberschule, dessen Folgen nicht medizinisch richtig behandelt worden waren. Bin dann nach dem Abitur, was ich mit Müh und Not durch fast ständiges Fehlen in der Schule überhaupt noch gemacht habe, bin aber jetzt noch mit einem guten Zeugnis aus der Schule gekommen, aber ich habe oft gefehlt. Bin dann danach ein Jahr Invalide geschrieben worden und habe aus der Not heraus eine kaufmännische Lehre angetreten und bin dann auch für drei Jahre im kaufmännischen Bereich tätig gewesen, habe aber schon noch während der Oberschulzeit angefangen, kleine Geschichten zu schreiben für die örtliche Zeitung hier und bin im Jahre 1964 erstmal angesprochen worden, ob ich nicht für die Zeitung mich entscheiden möchte. Das war einmal zunächst seitens der SED-Zeitung "Märkische Volksstimme", hatte man Überlegungen angestellt, mich als Sportredakteur nach Potsdam zu holen, aber mir war das einfach zuwider, in die sozialistische Einheitspartei einzutreten. Und da ich für die "Brandenburgischen Neuesten Nachrichten" als Organ der nationaldemokratischen Partei Deutschlands schon diese und jene Geschichte geschrieben hatte, kleine Berichte, auch Fußball, kleine Fußballberichte, da hatte ich dann ein Angebot, dort als freiberuflicher Mitarbeiter anzufangen und daraufhin habe ich am 1. September 1965 in der Lokalredaktion Brandenburg meine Tätigkeit bekommen und zu dieser Zeit bestand die Zeitung genau zwölf Jahre hier in der Havelstadt. Und es war natürlich nicht einfach, es war oftmals ein Balanceakt gewesen für die Journalisten, aber ich möchte jetzt nicht hier irgendwie nun mich so darstellen, dass wir alles umgehen konnten, das war einfach nicht der Fall, und das wird jeder bestätigen können. Es war aber durchaus möglich, vieles von dem zu vermeiden, was in den SED-Zeitungen stand, speziell was die Propaganda anbelangte, was diese Jubelgesänge betraf zugunsten der Partei und der Regierung.

Mein Schulfreund und ich reihten uns mit ein, als der gesamte Zug der Menschenmassen - es war unvorstellbar, was da los war, welch ein Gebrodel, brodelndes Erwarten unter den Leuten - sich dann formierte und wir ohne zu bedenken, uns eventuell in Gefahr zu begeben, mitgezogen sind.

Biografie

Manfred Lutzens im Jahr 1954

Manfred Lutzens wächst in der Stadt Brandenburg auf. Die SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Propaganda findet er unerträglich, der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

-Presse glaubt er nicht, seine Informationen bezieht er aus dem West-Berliner Radiosender RIAS

Der RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor) war ein amerikanischer Rundfunksender für die Berliner Bevölkerung, der seit 1946 bis zur Wiedervereinigung mit seinen Nachrichten- und Musiksendungen auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und DDR gehört wurde. Das RIAS-Hören sowie Kontakte zum Sender konnten in der DDR strafrechtlich verfolgt werden. 

. Als Kind ist er nie Mitglied bei den Pionieren, entscheidet sich in den 50er-Jahren für die Konfirmation und damit gegen die offiziell propagierte Jugendweihe

Die Jugendweihe war eine staatlich organisierte Feier zum Eintritt in das Erwachsenenalter. Kern war ein Gelöbnis, mit dem sich die Jugendlichen zum Sozialismus und zur DDR bekennen sollten. 

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Für ihn ist der Volksaufstand

Am 17. Juni 1953 fanden in der gesamten DDR Streiks und Demonstrationen statt. Die Aufständischen forderten: Rücknahme der Normerhöhungen, Freilassung der politischen Häftlinge, Schluss mit der SED-Herrschaft und freie Wahlen. Sowjetisches Militär schlug den Aufstand nieder. Über 50 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt, über 1.200 zu Haftstrafen verurteilt. Die SED diffamierte den Aufstand als faschistischen Putsch.

am 17. Juni 1953 das prägende Erlebnis. Er sieht, wie ängstlich plötzlich all die gefürchteten Autoritäten reagieren. Er reiht sich in den Demonstrationszug ein und erlebt, wie die Transparente mit SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Losungen heruntergerissen werden und die allgegenwärtige Propaganda einfach in Flammen aufgeht. Er wird erfasst von der brodelnden Erwartung der Aufständischen und fühlt, welche Kraft das Volk entwickeln kann. Vor dem Rathaus fordert die Menge, der verhasste Oberbürgermeister möge sich den Demonstranten zur Diskussion stellen, doch dann peitschen Schlüsse über den Platz, Panzer rollen heran und treiben alle auseinander. Das vergisst er nie.

Später versucht Manfred Lutzens Kompromisse einzugehen, um seine Ausbildung und berufliche Entwicklung nicht zu gefährden. So tritt er, um sein Abitur ablegen zu können, in die FDJ

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

ein. Nach der Schule macht Lutzens eine kaufmännische Ausbildung, doch viel lieber schreibt er journalistische Texte. Für die gibt es in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

-Presselandschaft nur wenige Nischen, in denen die SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Propaganda nicht allgegenwärtig ist. Eine ist der Lokaljournalismus für eine Blockpartei

Alle Parteien außer der SED wurden in der DDR als Blockpartei bezeichnet, weil sie Teil des sogenannten Demokratischen Blocks der Parteien und Massenorganisationen waren. Sie ordneten sich dem Führungsanspruch der SED unter. Blockparteien waren die CDU, die DBD, die LDPD und die NDPD.

. Nach kurzer Zeit ist Lutzens hauptberuflicher Lokaljournalist in Brandenburg und versucht, Texte zu schreiben, in denen er seine Leser nicht belügen muss.