Ortwin Müller

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Ja, ich bin im Juli 1935 in Grütz an der Havel geboren worden, habe dort von 1941 bis ´49 die einklassige Volksschule besucht mit dem Abschluss der 8. Klasse. Habe mich auch schon immer früher für geschichtliche Themen interessiert. Im Oktober 1949 habe ich eine Lehre als Mauer begonnen beim damaligen Baugeschäft Rudolf Malinowski in Berlin-Ausbau. Leider Anfang 1952 ging es mit dieser Firma rapide bergab. Ich kenne die Gründe heut nicht mehr, aber wir hatten dann kaum noch Material und auch die Bezahlung ließ sehr zu wünschen übrig. Ich hatte aber das Glück und wurde vom damaligen Kreisbaubetrieb Rathenow, am ehemaligen Schulplatz war dort der Sitz, übernommen und konnte in diesem Betrieb meinen Facharbeiter als Maurer im Sommer 1952 abschließen. Ich wurde auch dann weiter übernommen vom Kreisbaubetrieb und konnte als Maurer weiterarbeiten und wir wurden dann später viel im Raum Premnitz eingesetzt. Auf der Baustelle, natürlich wurde mal, wurde auch politisiert, da wurde etwas gesprochen und es sickerte natürlich in diesen Tage durch, dass in Berlin die Bauarbeiter unzufrieden waren und dass da Demonstrationen stattfanden. Aber so ganz verlief es bei uns eigentlich auf der Baustelle ziemlich ruhig, muss ich sagen. Der Polier kam natürlich auch öfter und kontrollierte. Und wir hatten unsere Normen und wir haben es natürlich auch manchmal nicht geschafft. Gerade so bei Innenputzarbeiten. Dann kam er an und: Der andere ist schon weiter und ihr seid wieder zurück. Und da hatte man doch einige Probleme, dass da Druck gemacht wurde. 17. Juni 1953 in Premnitz Am frühen Morgen, man zog sich um, wir zogen uns um, und es war eigentlich ruhig an diesem Tage. Aber im Laufe des Vormittags auf einmal wurde das unruhig. Man fing an zu diskutieren, aber ich kann nicht mehr sagen, woher, wer die Leute waren, die jetzt da diese Unruhe reinbrachten oder die sagten dann: "Los, Leute, kommt alle zusammen, wir marschieren jetzt ins Kunstseidenwerk!" Gesagt, getan. Ich hab gedacht, ja, schließ dich an, und es war aber, ich hab das schon mal gesagt, es war kein wilder Haufen, das wurde richtig organisiert, eine richtige Marschkolonne gebildet und alle haben sich eingereiht und dann ging es los, in Richtung, durch die Stadt. Unterwegs schlossen sich auch andere Bürger noch an, kann ich mich entsinnen, und manche riefen auch aus unserer Marschkolonne: "Leute, kommt mit hier, wir marschieren hier ins Werk und für ein besseres Leben!", naja, und was dann so gesagt wurde. Und dadurch wurde natürlich die Kolonne immer länger und immer größer, aber wieviel Leute das letztendlich waren, als wir dann am Tor 2 ankamen, das ist in Premnitz-Süd, das war immer das Haupttor, nannte sich Tor 2. Als wir dort ankamen, war es natürlich eine ganz schöne Menschenmenge, muss ich sagen. Und dann war so ein Flachbau davor mit Pappe gedeckt, und man reichte dann ganz spontan von diesem hohen Gebäude, auf einmal kamen Tische durchs Fenster oder eine Balkontür, weiß ich heute nicht mehr, und wurden aufgestellt auf dem Pappdach. Dann kamen Stühle dazu und dann ging das los, na, wie sagt man, heute sagt man so ein "Meeting". Und dann kamen auch aus verschiedenen Abteilungen von Premnitz Personen dazu, die ihre Sorgen und Nöte schilderten. Auch Bauarbeiter schilderten dann Sorgen und Nöte. Ich weiß noch heute, dass also, ich glaube, man sagte damals "Agitatoren", es kamen dann einige von diesen Agitatoren mit Stühlen an und stellten sich auf einen Stuhl und wollten irgendwelche politischen Reden halten oder wollten beruhigen, die Menge beruhigen. Aber ich kann Ihnen sagen: So schnell, wie der auf seinem Stuhl war, so schnell war er auch wieder runter. Also, das ging denn ganz schnell. "Was willst du hier?", und "Du kannst uns doch hier nichts erzählen!", und, naja, denn wurde bisschen geschubst und gestoßen und schon war er unten und war wieder verschwunden. Daran kann ich mich noch genau erinnern, dass also die Situation doch recht gespannt war, also, die waren auch dann weg. Da war nichts mehr, nichts mehr zu machen. Naja, es ging dann mit Reden los: Die Abteilung, die Abteilung, Bauleute, das wurde Nachmittag, es wurde später. Für mich persönlich wurde, ich bin mal ehrlich, dann zum späten Nachmittag denn es doch ein bisschen langweilig. Weil man die Dinge im Kunstseidenwerk ja nicht so kannte. Und man verzog sich dann. Ich glaube, das löste sich dann, die Bauarbeiter gingen einzeln wieder zurück. Aber es war schon später Abend, also, als ich mich wieder umzog und zurückging, es dämmerte schon, kann ich mich entsinnen. Ich stand an meinem Fahrrad und musste durch Rathenow durch. Und in Rathenow war es gespenstisch. Daran erinnere ich mich noch ganz genau. Also, Rathenow war wie eine tote Stadt. Man hat nicht einen Menschen gesehen. Aber mir hat keiner was getan. Ich kannte meinen Weg, bin durch Rathenow geradelt und nach Hause, und am anderen Morgen, ehrlich wie immer wieder zurück zur Baustelle, aber wir haben nicht gearbeitet. Wir haben noch - ich weiß heute nicht mehr, wie lange, ein oder zwei Tage -, haben wir uns hingesetzt und haben nicht gearbeitet. Natürlich kam der Polier an: "Jungs, fang mal wieder an zu arbeiten." Das war ganz friedlich, muss ich sagen, "Ihr seht doch, was los ist und fangt doch mal wieder an zu arbeiten!" Naja, ein, zwei Tage haben wir rumgemurrt und, aber dann ging es wieder weiter. Ich bin denn zur Fachschule gegangen, noch Ende ´53 bis ´56. Dadurch hat sich das auch ein bisschen verloren, und eigentlich wesentliche Erinnerungen sind dann eigentlich nicht mehr dagewesen. Es ist erstaunlich: Wir waren 22 Bauingenieure, die dort den Abschluss gemacht haben. Und wir treffen uns jetzt noch alle zwei Jahre, einige sind aber inzwischen verstorben. Aber nicht einer von uns 22 ist in den Westen gegangen. Viele sind in die Kohle gegangen, da nach Cottbus und hatten in der Braunkohle ihre Arbeit. Einige waren hier von Neubrandenburg, die hatten da ihre Arbeit, naja, überall, die Städte waren kaputt und Arbeit war da.

Das war kein wilder Haufen. Das wurde richtig organisiert, richtige Marschkolonnen gebildet, alle haben sich eingereiht und dann ging es los.

Biografie

Ortwin Müller, Jahrgang 1935, wächst als typisches Kriegskind im Havelland auf, absolviert eine Maurerlehre und arbeitet im staatlichen Kreisbaubetrieb in Rathenow. 1953 arbeiten die Maurer aus Ortwins Brigade

Brigade nannte man in der DDR die kleinsten Arbeitsgruppen in Betrieben, Verwaltungen, Genossenschaften, Institutionen, aber auch in der FDJ und der Pionierorganisation. Die ersten Brigaden nach sowjetischem Vorbild entstanden 1947/48 in den verstaatlichten Betrieben. Unter Leitung eines Brigadiers sollten  Höchstleistungen in der Produktion und im sozialistischen Wettbewerb erzielt und die Entwicklung sogenannter sozialistischer Persönlichkeiten  und Arbeitskollektive gefördert werden.

auf Baustellen im nahen Premnitz. Hier erlebt Müller den Volksaufstand

Am 17. Juni 1953 fanden in der gesamten DDR Streiks und Demonstrationen statt. Die Aufständischen forderten: Rücknahme der Normerhöhungen, Freilassung der politischen Häftlinge, Schluss mit der SED-Herrschaft und freie Wahlen. Sowjetisches Militär schlug den Aufstand nieder. Über 50 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt, über 1.200 zu Haftstrafen verurteilt. Die SED diffamierte den Aufstand als faschistischen Putsch.

vom 17. Juni. Am Morgen erscheinen alle auf der Baustelle, doch sofort ruft einer der Bauarbeiter: "Wir marschieren ins Kunstseidenwerk!" Das war damals der größte und wichtigste Betrieb in der Stadt.

In Windeseile formiert sich ein Demonstrationszug, dem sich in der Premnitzer Innenstadt unglaublich viele Menschen anschließen. Am Haupttor des Kunstseidenwerks wird das Flachdach eines Hauses als Bühne freier Rede und offener Diskussion genutzt. Viele Menschen kommen zu Wort, das ist ungeheuer befreiend. SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Agitatoren versuchen die Debatte zu stören, doch sie werden verjagt. Ihre Propaganda will niemand mehr hören.

Als Müller sich am späten Nachmittag auf den Heimweg macht, ist diese Versammlung noch nicht zu Ende. Dass der Volksaufstand

Am 17. Juni 1953 fanden in der gesamten DDR Streiks und Demonstrationen statt. Die Aufständischen forderten: Rücknahme der Normerhöhungen, Freilassung der politischen Häftlinge, Schluss mit der SED-Herrschaft und freie Wahlen. Sowjetisches Militär schlug den Aufstand nieder. Über 50 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt, über 1.200 zu Haftstrafen verurteilt. Die SED diffamierte den Aufstand als faschistischen Putsch.

andernorts schon mit militärischer Gewalt zerschlagen wurde, erfährt er erst später. Am nächsten Morgen erscheinen zwar wieder alle Maurer pünktlich auf ihrer Premnitzer Baustelle, arbeiten aber nicht. Zwei Tage geht das so, dann sehen sie ein, dass der Aufstand nicht wieder aufflammen wird, sondern gescheitert ist.

Ortwin Müller nutzt bald darauf die Chance, an einer Bauingenieur-Fachschule zu studieren. In den Westen

In der DDR umgangssprachliche Bezeichnung für die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.

gehen will er nicht und richtet sich sein Leben in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

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