Rainer Awiszus

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Ja, ich hab meine Kindheit in Königsberg (Ostpreußen) verlebt und bin nach den schweren Bombenangriffen evakuiert worden nach Sonnenstuhl in Ostpreußen und später, als immer mehr klar wurde, dass diese Ostgebiete an Polen fallen würden, sind wir weiter geflüchtet mit dem Zug und letztendlich über Berlin, wo wir Verwandte hatten, in Brandenburg an der Havel gelandet. In der Oberschule war ich FDJ-Mitglied und, naja, das war zweckmäßig, sagen wir mal. Unsere Klassenlehrerin hat mit meiner Mutter gesprochen und hat gesagt, ja, wär schon gut, wenn er `reingeht, also, und es gab ja dann auch immer die gesellschaftlichen Beurteilungen im Zeugnis und (...) ich bin viel mit dem Blauhemd ´rumgerannt. Es war billig, das hat man überhaupt gekriegt, denn es gab ja auch Textilien gar nicht so ohne Weiteres zu kaufen. In den ersten Jahren in Brandenburg-Neuschmerzke habe ich sogar ein altes Braunhemd noch getragen, das mir von der Kirche verpasst wurde, als, naja, weil wir wirklich nichts hatten, wir waren ja arm wie die Kirchenmäuse. Und da half auch so ein braunes Hemd noch weiter. Und später hab ich gern und viel FDJ-Hemd getragen. Ja, das spielt beim 17. Juni auch noch eine Rolle. B: Unser Lehrer - welcher Lehrer das nun gewesen ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich der Klassenlehrer - hat uns gesagt: Geht nach Hause, hier ist was los, Aufstand und so weiter. Und dann haben sie blitzschnell auch die Stalin-Bilder von den Wänden abgehängt und keiner hatte mehr ein Parteiabzeichen an. Wir sind also raus aus der Schule und haben nun - ich hab mein Fahrrad geschoben, ich kam ja von Neuschmerzke normalerweise immer mit dem Fahrrad zur Schule, und immer noch im Blauhemd, denn ich hatte ja auch an dem Tag nichtsahnend mein FDJ-Hemd an. Dann, neugierig wie wir waren, sind wir hingelaufen zum, wie hieß das, Jungfernstieg, da war die SED-Kreisleitung. Die war zu diesem Zeitpunkt schon von Aufständischen gestürmt worden. Also, und da dieses Geräusch, dieses Auf- und Abschwellen, also, die haben immer Beifall geschrien, wenn wieder eine Schreibmaschine oder ein Aktenbündel aus dem Fenster flog und, ja, mit langen Stangen, irgendwie Fahnenstangen so, versucht diese Buchstaben von der SED-Kreisleitung abzustoßen. Und dann entdeckten mich solche Leute da von den Aufständischen und schrien immer: "Na, Mensch, da läuft doch noch Eener mit`m FDJ-Hemd ´rum. Schmeisst´n ins Wasser!" Meinen Schreck wird man sich vorstellen können, aber zu meinem Glück waren ein paar Frauen, die sich davor gestellt haben und haben gesagt: "Wat kann denn der Kleene dafür, lasst´n in Ruhe!" Dann haben die von mir abgelassen und dadurch bin ich nicht nass geworden an dem Tag. Also, der Demonstrationszug, der kam, die hatten auch so schnell angefertigte Plakate, und die haben gesagt, wir wollen freie Wahlen. Es ging um freie Wahlen. Und sie haben immer gerufen: "Spitzbart, Bauch und Brille, das ist nicht des Volkes Wille." Das war eine der Losungen, an die ich mich erinnere. Und dann kam eben der Ruf plötzlich aus den Massen raus: "Los, jetzt ziehen wir zum Volkspolizei-Kreisamt und zum Stadthaus." Und wir sind mit. Und haben uns aber schön im Hintergrund gehalten und die Polizisten dort, die versuchten nun, haben die Türen zugemacht und versuchten, sich der Massen zu erwehren. Was nicht so leicht war. Dann haben sie versucht, mit Wasser zu spritzen, mit einem kleinen Schlauch hier, Anderthalb-Zoll-Schlauch, haben die Leute drüber gelacht, ja. Dann kam aus Hohenstücken die Kasernierte Volkspolizei angefahren mit mehreren LKWs, aufgesessene Infanterie. Und die Demonstranten gingen auf die zu und sagten: "Los, kommt, Leute, ihr habt wenigstens Waffen, jetzt machen wir aber richtig Revolution, hier." Das wurde denen zu unheimlich. Der Kommandeur ließ die Kasernierte Volkspolizei wieder abfahren. Der soll später großen Ärger deshalb gehabt haben. Kann ich jetzt aber nicht mich für verbürgen, ja, weil, naja, er hat jedenfalls nicht eingeschritten. Er hätte ja auch ohne Waffengewalt vielleicht die Demonstranten zurückdrängen können oder sowas. Aber der hatte auch Angst gekriegt und zog ab. Und die Situation wurde immer brenzliger. Die Demonstranten versuchten dieses Volkspolizeikreisamt zu stürmen. Und dann wurde geschossen. Ein Mensch fiel um. Lag dann dort, ja, und die Demonstraten strömten zurück, haben sich aber nur ganz kurz zurückhalten lassen, haben sich dann irgendwie um den Verletzten gekümmert. Das haben wir alles nicht so genau gesehen, wir waren ja, naja, siebzehnjährige Jungs, die haben es mit der Angst zu tun gekriegt. Wir haben also mehr oder weniger hinter dem Plauer-Tor-Turm versteckt, mein Freund Werner Bannies und ich, haben von weitem geguckt. Und ja, so wurde das da immer brenzliger und auf einem Mal fingen die Leute alle an zu rennen. Strömten weg von dem Volkspolizeikreisamt und verkrümelten sich, also, die rannten alle. Und wir haben geguckt und da fuhr hinten so eine, wie die Straße heißt, weiß ich jetzt nicht mehr genau, kamen die ersten Russenautos angefahren. Aufgesessene Infanterie, vorne einer oder eine, gelbe, rote Fähnchen, wie sie immer so die Richtung anzeigen, und alle Leute rannten weg. Panzer hab ich da nicht gesehen, obwohl hinterher - das steht auch in dem Artikel wieder, als die Panzer kamen, und ich habe auch mit einem Schulfreund gesprochen, der wohl da in der Ecke gewesen ist - es müssen die Panzer hinterhergekommen sein. Und zwar von den Kasernen aus der Magdeburger Landstraße. Das waren ja die Russenkasernen und von da müssen einige Panzer gekommen sein. Ich habe jedenfalls also dort nur Infanterie gesehen, aufgesessene Infanterie und die hielten denn auch und haben überall Posten abgesetzt. Immer mit so einem kleinen Maschinengewehr, zwei, drei Mann. Jedenfalls war der Volksaufstand damit bei uns beendet. Ich wollte Werkzeugmaschinenbau studieren und wurde abgelehnt. Und bin dann auf die Ablehnung hin, ich war ja schon im Traktorenwerk, bin ich da geblieben und hab ein Jahr praktisch im Drei-Schicht-Betrieb in der Getriebegehäusestraße gearbeitet, angelernt an der Maschine, an einer großen Radialbaumaschine und an so einem Fräswerk, und, na gut, als Oberschüler, dämlich war man ja nicht und hab da relativ gut verdient auch, 350 Mark damals. Das war ein Haufen Geld für mich, und hab mich dann wieder beworben. Wieder nach Dresden, und dann kam die große Welle der KVP-Werbung. Und mir blieben letztendlich nur noch zwei Alternativen, also entweder ich sag "ja" und geh zur KVP oder ich hau ab nach Westberlin. Wir hatten ja Verwandte in Westberlin. Ich konnte es aber meiner Mutter nicht antun, die da alleine zu lassen und hab letztendlich "ja" gesagt und bin zur KVP gegangen. Naja. Zwei Jahre und zwei Monate war ich dabei, wobei die letzten zwei Monate waren wirklich freiwillig, denn man hat uns dann, also, ich hab mich ja in dem Moment schlagartig von einem Verräter und Defätisten, Verräter an der Sache der Arbeiterklasse schlagartig verwandelt in einen der besten Söhne des deutschen Volkes, so wurden wir genannt, die sich nun haben breitschlagen lassen. So, und die Kaderabteilung, die hat dann auch zugesagt, dass wir betreut werden bei der Armee, also zu den Feiertagen irgendwelche kleinen Geschenke kriegten und die Betriebszeitung immer geschickt kriegten, also, das haben sie auch alles gemacht. Und nach den zwei Jahren war es natürlich auch kein Problem mehr, zum Studium zu kommen. Diese Zulassung zum Studium hatte ich mir damit verdient. August 1961 – Bleiben oder Gehen Es sind viele damals abgehauen nach drüben. Sowohl Studenten als auch Professoren. Man grüßte sich dann so: "Wat denn, noch hier?" So ungefähr war das. Und auch die Züge, wenn ich mit dem Zug nach Hause nach Brandenburg oder so, die waren in einer Richtung viel voller als in der anderen, ja. Aber ich selber hatte nicht die Absicht, ich wollte schon mein Studium zu Ende führen. Darum hatte ich ja gekämpft, deshalb war ich zwei Jahre und noch länger bei der Armee, um endlich das Studium, und da es auch nicht so schlecht stand und hab es dann ja auch geschafft. Die Absicht rüberzugehen, hatte ich nicht.

Der Demonstrationszug, der kam, die hatten auch so schnell angefertigte Plakate, und die haben gesagt, wir wollen freie Wahlen. Es ging um freie Wahlen. Und sie haben immer gerufen: "Spitzbart

Walter Ulbricht (1893-1973) war Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED (1953-1971), stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der DDR (1949-1960), Vorsitzender des Staatsrates der DDR (1960-1973) sowie Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates (1960-1971). Er hatte  die höchste politische Entscheidungsgewalt in der SED und DDR bis 1971. Er war hauptverantwortlich für die Niederschlagung des Volksaufstandes 1953 und die Grenzschließung 1961. Vom Volksmund  wurde er „Spitzbart“ genannt.

, Bauch und Brille, das ist nicht des Volkes Wille“.

Biografie

Rainer Awiszus im Jahr 1953

Rainer Awiszus, geboren in Königsberg, kam zum Kriegsende mit neun Jahren als Flüchtlingskind in die Stadt Brandenburg an der Havel. Als Oberschüler tritt er in die FDJ

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

ein, die einzige und staatstragende Jugendorganisation in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

. Rainer trägt das Blauhemd

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

der FDJ

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

viel öfter, als es sein müsste. Das ist aber kein Zeichen von Regimetreue. Als Flüchtlingsjunge hatte er kaum etwas anderes anzuziehen.

Auch am 17. Juni, dem Tag des Volksaufstandes in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

, geht Rainer im Blauhemd

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

zur Schule. Dort herrscht große Aufregung. Kein Lehrer trägt mehr sein SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Parteiabzeichen

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

, die Stalin

Josef Wissarionowitsch Stalin (1878-1953) war von 1922 bis 1953 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU[B]), Regierungschef ab 1941 und Oberster Befehlshaber der Roten Armee von 1941 bis 1945. Während der sogenannten stalinistischen Säuberungen zwischen 1934 und 1953 wurden mehrere Millionen Menschen ermordet oder zur Zwangsarbeit im Gulag verurteilt.

-Bilder werden abgehängt und die Schüler wieder weggeschickt. Die machen sich sofort auf den Weg zum lokalen Zentrum des Aufstands. Fasziniert beobachten die Schüler die Besetzung der SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Kreisleitung, bis einer der Aufständischen Rainers FDJ

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

-Hemd entdeckt. Jetzt wird es ihm zum Verhängnis, denn die Wut der Demonstranten ist groß. Er hat große Angst, doch in letzter Minute stellen sich ein paar couragierte Frauen aus den Reihen der Aufständischen schützend vor ihn.

Als Abiturient gilt Rainer in seiner Schule als politisch unzuverlässig. Er darf nicht studieren, sondern wird zur Arbeit ins Traktorenwerk geschickt. Sein Maschinenbau-Studium kann er erst antreten, nachdem er „freiwillig“ zwei Jahre in den militärischen Verbänden der Kasernierten Volkspolizei gedient hat.

1961, im Jahr des Mauerbaus ist Awiszus noch Student. Gehen oder Bleiben – das fragt sich jeder. Das ehemalige Flüchtlingskind entscheidet sich fürs Bleiben. Er will hier sein Studium beenden. So ist er in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik wurde am 7. Oktober 1949 auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone gegründet. Sie hatte den Charakter einer kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild.

, als die Mauer gebaut wird.