Waltraud Thiele

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Ja, ich wurde im Roten Ochsen geboren am 28. September ´48 in einer einfachen Zelle. Meine Mutter hatte erst Einzelhaft, aber durch die Umstände wurde zwei Tage vorher bis zwei Tage nachher noch jemand, noch eine Inhaftierte mit reingelegt, und entbunden wurde ich von einem Arzt, der vor ´45 Militärarzt war. 1962 ist Waltraud Thiele 14 Jahre alt. Als Krönung der achten Klasse gab es dann immer die Jugendweihefeiern. Und die Fahrten in die Gedenkstätten. Und unsere Schule, die Wedekind-Schule, ist eben nach Sachsenhausen gefahren. Und meine Mutter hatte mir verboten, bei der Jugendweihefahrt mitzufahren. Und ich habe mir gedacht: Naja, das kannst du dir eigentlich nicht verbieten lassen. Und bin einfach heimlich mitgefahren. Und so war der Ausflug nach Sachsenhausen mit meiner Klasse sehr emotional in der Gedenkstätte dort. Und wir sahen dort Kindersachen und Haare und uns wurde erzählt, wie viel hier zu NS-Zeiten umgekommen sind und so war ich sehr beeindruckt, als ich wieder nach Hause kam. Meine Mutter saß in der Stube bei einer Tasse Tee und ich hab mich dann entschuldigt, dass ich dann doch mit nach Sachsenhausen gefahren bin. Und ich weiß nur, dass meine Mutter so richtig rot wurde vor Wut irgendwie. Und ich hab ihr dann meine Eindrücke erzählt und da kam es plötzlich aus meiner Mutter heraus: "Die Kindersachen, die du gesehen hast und, und alles Mögliche, das war nicht nur zu NS-Zeiten. Du warst, ich war mit dir in Sachsenhausen!" Und als ich das dann gehört hatte, war ich erst mal erschrocken, wieso denn. Das ist doch ein KZ gewesen, wie kannst du denn dort gewesen sein? Ich bin doch erst nach dem Krieg geboren. Und da hat sie gesagt: "Ja, ich war dort, ´48 bist du im Roten Ochsen geboren, dann sind wir in das Lager nach Sachsenhausen gekommen und ich habe dort in der III. Zone in Sachsenhausen arbeiten müssen. Dich konnte ich nicht sehen, du warst getrennt von mir." Und dann hab ich noch die Fragen nach meinem Vater gestellt und daraufhin hat sie mir geantwortet: "Dein Vater war ein Agent und man hat mich wegen ihm eingesperrt eigentlich. Und er hat uns aber vergessen und deswegen gibt es für dich keinen Vater." Und da hab ich das natürlich dann meiner Freundin erzählt und da haben wir beide den Plan gefasst: Wir gehen einfach zum Roten Kreuz und lassen den Vater suchen. Und unter anderem waren wir auf so einer Stelle. Ich kann es nicht mehr beschreiben, auf jeden Fall sind wir dann beim Jugendamt gelandet. Und auf dem Jugendamt hab ich dann meine Geschichte erzählt, die ich ja von meiner Mutter nun gehört hatte. Und die Damen auf dem Jugendamt waren auch sehr lieb und so sehr nett zu mir. Ich hab dann noch eine rote Brause gekriegt und eine Schlagersüßtafel und dann haben sie gesagt: Nun geh nach Hause, wir werden uns schon um alles kümmern. Und dann bin ich dann nach Hause gekommen und wieder saß meine Mutter in der Stube auf einem Stuhl und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Und neben ihr saßen zwei Herren im schwarzen Ledermantel. Auf dem Tisch lagen dann ausgebreitet Bilder. Und auf den Bildern war ich als Kleinstkind und neben mir waren sozusagen in Schwesterntrachten Frauen. Und mir wurde dann erzählt, alles was meine Mutter mir einen Tag zuvor erzählt hat, entspricht nicht der Wahrheit. Das hat sie sich ausgedacht. Ich war immer sehr krank und ich bin ja auch immer noch sehr krank und lag lange Jahre im Krankenhaus. Und dokumentiert konnte man das ja dann auch auf den Bildern sehen. Die Herren haben sich dann verabschiedet, die Bilder haben sie mir dagelassen. Ich war nun natürlich hin- und hergerissen. Von meiner Mutter hab ich keine Antwort mehr gekriegt. Sie weinte nur bitterlich immer. Und die Gespräche, die darauf folgten, waren dann immer nur: Du hast ja gehört, was los ist und mehr kann ich dazu nicht sagen. Und so blieb es viele, viele Jahre. Und dann wurde meine Mutter sehr, sehr schwer krank, lag nur noch im Krankenhaus und verstarb dann an einer Nieren-Tbc, die früher nicht erkannt worden ist. Das ist wahrscheinlich noch infolge der Haft gewesen, dort hatte sie auch Tbc und da hat sie dann die Nieren-Tbc bekommen und ist dann auch daran gestorben. Zuvor hat sie mir aber noch praktisch auf dem Totenbett erzählt: "Alles, was ich dir erzählt habe, du bist im Roten Ochsen geboren und wir waren zusammen in Sachsenhausen, und du warst nicht lange Jahre im Krankenhaus, sondern du warst in einem Kinderheim. Und kurz vor deinem Geburtstag hab ich dich dann zurückgekriegt und deine Geschichte, die danach kam, die kennst du ja dann." In mir war wieder alles richtig aufgewühlt: Was soll ich davon halten? Auf jeden Fall sagt man doch immer, wenn die Eltern das auf ihrem Totenbett erzählen, dann ist da was Wahres dran und ich bin mit dem Geheimnis, was ich nun hatte, ins Leben gegangen und habe dann auch ab und zu mal erzählt: Ich bin im Roten Ochsen geboren und meine Mutter hatte zehn Jahre Gefängnis. Und den Leuten, denen ich das dann erzählt hatte im Betrieb und so, die haben mir dann freundlich auf die Schulter geklopft und haben gesagt: "Waltraud, du hast ja ein schlimmes Schicksal gehabt, aber wenn deine Mutter zehn Jahre Haft bekommt, dann hat sie was ganz Schlimmes gemacht." Und ich hab dann auch aufgehört, die Geschichte zu erzählen. Und dann kam die Wende. Und dann gab es in Halle hier eine Beratung für Betroffene, wo man erfahren konnte, wie man sich rehabilitieren lassen kann beziehungsweise die Eltern. Ich bin dann in die Beratungsstunde gegangen und habe mein Schicksal erzählt und wollte meine Mutter rehabilitieren lassen. Meine Mutter hat damals gesagt, sie ist verhaftet worden wegen Spionage, weil mein Vater ein Agent war und den man aber nicht gekriegt hat und dafür ist sie einfach eingesperrt worden. So stand das eigentlich, so steht das eigentlich im Raum. Der, der mich beraten hatte, der ist dann ein paar Tage später zu mir nach Hause gekommen und gesagt: Sie sind Betroffene und es besteht die Möglichkeit einer ABM. Sie sind doch arbeitslos, hatten Sie mir erzählt, und das würde dann für ein Jahr sein und Ihr Aufgabengebiet wär so eine pädagogische Betreuung der Betroffenen. Und ich sagte auch zu, arbeitete mich in dem Gebiet ein und hatte dann meine Beratungen in der Geschäftsstelle Leipzig. Das war der Bundesvorstand des BSV, das heißt Bund stalinistisch Verfolgter. Und meine ABM wurde dann auch verlängert und so bin ich eigentlich seit 1990 im Beratungsdienst für Betroffene politischer Willkürherrschaft. Diese Zeit nutzte ich aber auch, um meine Recherche weiter zu verfolgen. Und die Möglichkeiten hatte ich ja mit der ABM, die ganzen Freiheiten. Ich konnte dorthin fahren, ich bin zum Beispiel auch nach Sachsenhausen in das Lager zu Anlässen gefahren, hab mir das Lager angeguckt. Und so kam es dann eines Tages mal, hab ich dann gelesen, dass es da so einen Frauenkreis der Hoheneckerinnen gibt. Und da hab ich mich an den Frauenkreis der Hoheneckerinnen gewandt und die hatten auch jährlich solche Treffen und da war ich bei so einem Treffen dabei und da haben sich eben ein paar Frauen gefunden, die mir mehr zu meinem Schicksal erzählen konnten. Unter anderem die Frau hab ich dort getroffen, die zwei Tage vor der Entbindung meiner Mutter in der Haftzelle mit war und zwei Tage danach. Und die hat mir dann erzählt: Naja, deine Mutter, du wurdest ihr dann wieder weggenommen und ich wurde aus der Zelle rausgebracht, aber ich kann dir nur sagen, deine Mutter hat zusätzlich zu der Graupensuppe noch Vitamine in Form einer Mohrrübe gekriegt und mehr kann ich dazu nicht sagen. Und, dann hab ich eine Frau getroffen, die eben das Erlebnis miterlebt hatte, als meine Mutter in dem Lager angekommen ist, mich in der Handtasche und die Handtasche hochhielt und sagt: Hier ist mein Säugling, ich kann doch den nicht hier in der Baracke windeln. Und so bin ich von anderen Leuten in Empfang genommen worden. Dann hab ich auch die zwei Krankenschwestern kennengelernt. Das waren Inhaftierte, die in der Kinderbaracke, die es in Sachsenhausen für die Kinder gab, da sollen wohl bis zu sechsundzwanzig Kinder gewesen sein, die haben die Kinder dort betreut. Ich muss auch sagen, es gab, wenn es montags Milch gab, dann musste die Milch gestreckt werden bis zum nächsten Montag irgendwie und war es Sommer und die Milch war am Dienstag oder Mittwoch schlecht, da gab es eben keine Milch. Und Sonderrationen für die Kleinstkinder gab es dort nicht. Ich hatte immer ganz, ganz schlimme Träume. Und ich bin nun auch psychologisch hinter die Ursachen dieser Träume durch die ganze Aufarbeitung mit gestiegen und ich meine, wenn man untereinander reden kann über solche Sachen, wir können es ja in der Öffentlichkeit nicht machen, richtig so, wer hört uns denn zu? Aber untereinander wir Betroffenen, uns über die Themen zu unterhalten, das bringt Hilfe, Erleichterung, Unterstützung und eigentlich auch Mut für die anderen.

Ich sagte zu meiner Mutter, das ist doch ein KZ

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

gewesen, wie kannst du denn dort gewesen sein? Ich bin doch erst nach dem Krieg geboren.

Biografie

ca. 1951

Waltraud Thiele ist 14 Jahre alt, als zur Vorbereitung auf die sozialistische Jugendweihe

Die Jugendweihe war eine staatlich organisierte Feier zum Eintritt in das Erwachsenenalter. Kern war ein Gelöbnis, mit dem sich die Jugendlichen zum Sozialismus und zur DDR bekennen sollten. 

ein Besuch in die KZ

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

-Gedenkstätte Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

geplant wird. Als die Mutter davon erfährt, verbietet sie rigoros, dass Waltraud teilnimmt. Waltraud tut es trotzdem und berichtet der Mutter hinterher davon. Erst ist die Mutter wütend, dann bricht sie jedoch ihr jahrelanges Schweigen und erzählt, von der Verhaftung durch die sowjetische Geheimpolizei, von Waltrauds Geburt in einer Zelle im „Roten Ochsen“, dem Zuchthaus in Halle und dem Transport ins sowjetische Speziallager

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

. Und Waltrauds Vater? Die Mutter glaubt, dass sie wegen ihm verhaftet wurde, hörte jedoch nie wieder von ihm.

Waltraud erzählt völlig durcheinander ihrer besten Freundin davon. Die hat eine Idee: Sie könnten den Vater doch mit Hilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes suchen. Bald darauf sitzen zwei Männer des Staatssicherheitsdienstes bei Waltrauds Mutter am Tisch. Sie erklären dem Mädchen, dass sie von ihrer Mutter belogen worden sei. Sie habe die ersten Lebensjahre im Krankenhaus verbringen müssen und zeigen zum Beweis Fotos. In einem Lager sei sie nie gewesen.

Nach diesem Gespräch spricht die Mutter nicht mehr über die Vergangenheit, bis sie auf dem Sterbebett liegt und noch einmal ihrem Kind die Lager-Geschichte erzählt.

Erst nach der Friedlichen Revolution 1989 kann sie nach Akten und Haftkameradinnen ihrer Mutter suchen. Die bestätigen die Geschichte der Mutter. Waltraud kümmert sich nicht nur um ihre eigene Geschichte, sondern berät seit 1990 ehemals Verfolgte des SED

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) entstand 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone durch Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Die SED war eine marxistisch-leninistische Staatspartei, die ihren allumfassenden Machtanspruch umsetzte, indem ihre Funktionäre alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft besetzten.

-Regimes.