Wolfgang Völzke

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Ja, ich stamme aus Stolpen/Ostpommern und kam als Flüchtling, als Heimatvertriebener, wie das früher einmal hieß, nach Ost-Berlin zu einem Onkel, bei dem wir wohnten. In Ost-Berlin in der Rothenbergstraße, das ist Bezirk Prenzlauer Berg, und in der Nähe der Schönhauser Allee, vom Schönhauser S-Bahnhof, Schönhauser Allee S-Bahnhof. Und dort ging ich zur Schule, über den Hohmannplatz in die Schinkelschule und wiederholte meine zehnte Klasse, um dann das Abitur zu machen. Also, kurz und gut, die FDJ, ich hatte mich aber nicht gegen den Eintritt der FDJ eigentlich gewehrt, ich bin nie aufgefordert worden, da einzutreten. Da begann schon dieser erste Schlamassel. Aber ich hatte mich gegen etwas anderes gewehrt. Diese Jugendausschüsse, diese Antifa, so hießen sie, die Antifa-Ausschüsse, Antifa-Jugendausschüsse, die sollten der FDJ unterstellt werden. Und dagegen hatte ich mich gewehrt. Das lief so alles ganz ruhig und normal, bis ich dann am 26. Juni 1946 abgeholt wurde mittags von zwei Herren in den berühmten Ledermänteln. Das war genau über Mittag, aus der Wohnung von meinem Onkel. Ich war beim Schulsachen packen, weil wir nachmittags Schule hatten. Diese beiden Herren baten mich zu einer Besprechung, wollten mich mitnehmen. Ich wollte meine Schulsachen mitnehmen, um von da aus gleich zur Schule zu gehen - nein, das wollten sie aber nicht, aber ich solle einen Mantel anziehen. Das war also schon eigenartig, denn eigentlich war es ein schöner Sommertag, dass ich einen Mantel anziehen sollte. Und bin also, es war sonst niemand ausgerechnet in dieser Zeit zuhause. Als ich das Haus verließ, kam gerade meine Mutter mit meiner sechsjährigen Schwester hinten die Straße hoch, die sah noch, wie ich dann unten von den beiden Herren begleitet in ein schwarzes Auto stieg und wie wir losfuhren. Und dann legten sie mir plötzlich einen Zettel vor. Da war ein Gedicht drauf, das hieß damals "Gesang der Jugend zwischen den Fronten". Das waren Verse, die ich selber gemacht hatte und dann fragten sie mich, ob ich das geschrieben hätte. Daraufhin habe ich gesagt: "Ja.". Ja, was das sei mit der Freiheit und mit dem und jenem und ob ich Gedichte verteilt hätte auf Zetteln. Und das stimmte auch, ich hatte natürlich im Literaturclub Gedichte verteilt, unter anderem auch von Conrad Ferdinand Meyer, und ich war insgeheim auch gegen die sowjetische Macht oder gegen das, was uns da blühte mit der Diktatur der Kommunisten in Ost-Berlin, das hatte ich natürlich längst gespürt. Das waren also Freiheitsgedichte von Conrad Ferdinand Meyer und ähnlichen und ja, dann habe ich also mich rausgeredet, ich habe gesagt, ja, das sei eben gegen den Nationalsozialismus. Ohne Urteil kommt Wolfgang Völzke erst ins Speziallager Hohenschönhausen und anschließend nach Sachsenhausen. Wir kamen also in Sachsenhausen zunächst in die sogenannte "Zweite Zone". Das ist eine Sonderzone gewesen, und in dieser Sonderzone waren Quarantäne-Baracken. Da waren wir aber nur vielleicht eine Woche oder zwei, keine Ahnung, kurze Zeit jedenfalls, und dann wurden wir auf´s Lager verteilt. Dann kamen wir in die "Erste Zone", weil wir ja Internierte waren. 1947 liegt Wolfgang Völzke in der Krankenbaracke des Lagers. Und da lernte ich einen Pfleger kennen, der schon da war, einen Bruno, Nachnamen weiß ich nicht mehr, und dieser Pfleger zusammen mit mir, das heißt, er kam eines Tages auf den Gedanken, wir müssen die Totenlisten abschreiben. Die Totenlisten waren in einem Buch. Das wusste er alles, die waren in einem Buch, da gab es ein Zimmer in der Krankenbaracke, das gehörte nur den Russen, da durften wir eigentlich gar nicht rein, es sei denn, wir wurden reingerufen. Und der Bruno wusste, da gibt es ein Buch, da sind die Namen drin, und zwar die Namen in Deutsch und in Russisch. Und das war in der Tat ein Buch, na, wie so ein, wie um neunzehnhundert, so ein Kontobuch, wie es die Kaufleute haben. Mit steifen Deckeln und irgendwie so. Ich seh noch diesen Vordruck oben auf jeder Seite, das war irgendwas Kaufmännisches. Und da standen also diese Namen tatsächlich drin. "Wir müssen die abschreiben." Ich sagte zu ihm: "Du bist verrückt!" "Doch, wir werden heimlich rein und wir werden die abschreiben." Und da haben wir die tatsächlich abgeschrieben, so etwa über vierhundert schafften wir, dann kam irgendwas dazwischen. Auf verschiedenen Zetteln, kleine Zettelchen, die wir uns immer irgendwo organisierten, haben wir das dann abgeschrieben. Er behielt einen Teil, ich behielt einen Teil, und das sagten wir auch: Wir teilen uns die Zettel, wenn einer erwischt wird, bleibt wenigstens ein Teil erhalten sozusagen, und das nannten wir dann "die Totenlisten". Jedenfalls den Göring, den weihte ich ein und sagte zu ihm, ich brauch die Dinger, er möcht sie mir rausholen und mir geben. Das kriegten wir und ich weiß auch noch, das ist wieder eine Erinnerung, die plötzlich da ist so punktuell, wie er sie mir übergeben hat. Ich arbeitete vorübergehend in der Gärtnerei, und die Gärtnerei war direkt hinter dem Theater. Und da konnten wir uns mal so treffen, so dass er mir das durch den Zaun zustecken konnte. Ich wurde wieder rausgeholt und kam zur Lagerfeuerwehr. Ich hab mich nie darum bemüht, das ist alles gesteuert worden von Georg Thiedig oder vom stellvertretenden Kommandanten, dem ich irgendwie leidtat als der kleene Flitzer. Ich hieß denn auch "der Flitzer" nachher auf der Kommandantur und kurz und gut, es gab zwei Feuerwehren: Es gab eine Feuerwehr in der Arbeitszone. Die Arbeitszone nannte man Kommandantenhof in Sachsenhausen damals unter uns Häftlingen, warum, weiß ich nicht. Und eine Feuerwehr im Lager. Und diese Im-Lager-Feuerwehr lag gegenüber der Kommandantur. Da war der große Eingang, der breite Eingang. Wenn man reinkommt rechts von dem breiten Eingang war die Kommandantur, die Zivilkommandantur und links war gleich die Feuerwehrbaracke. Wir lagen uns also praktisch an diesem breiten Eingang gegenüber. Naja, da waren meine Dinger nun auch recht gut wieder gerettet, meine Totenlisten und sie wurden unter alten Feuerwehrschläuchen, mit denen wir was abgedichtet hatten da am Haus, an der Baracke, unter denen hab ich sie dann versteckt. Von innen war das abgedichtet, also auch neben meinem Lager und das war irgendwie so eine Abdichtung gegen Zug oder was weiß ich, so alte Feuerwehrschläuche, und da hatte ich sie also versteckt. 1949 führt die sowjetische Lagerverwaltung eine Journalistengruppe durch sorgfältig ausgewählte Bereiche des Lagers. Denn stand da so ein Journalist, so ganz einsam und verlassen, und der sah ganz vernünftig aus, ich wusste ja nicht, ob West oder Ost, aber ich dachte, sprichst den mal an und erzählst dem mal, was hier wirklich los ist. Denn wir wussten ja, von dem Übereinkommen, von Auflösen, von Entlassen - wussten wir ja nichts, sondern wir dachten, es geht nun weiter, aber wir müssen uns wehren. Und aus diesem eigentlich unpolitischen Völzke war nun doch irgendwie ein bisschen ein politischer Mensch geworden. Und kurz und gut, ich erzähle dem also dies und jenes. Und es hat doch in der Nähe einer gestanden, der das wohl gehört hat. Ich sah das zu spät oder aber der Journalist war ein Ostler, keine Ahnung. Die Journalisten waren raus - ich wurde noch am selben Abend in die Vorzone gerufen auf die Kommandantur. Wolfgang Völzke kommt 1950 von Sachsenhausen in das Zuchthaus Waldheim und wird in einem Geheimverfahren zu weiteren 8 Jahren Haft verurteilt. Der Volkspolizist, der daneben stand, der passte ja immer bloß auf, dass nichts von dem Paket an den Häftling ging, was nicht an ihn gehen durfte. Und der Saalälteste machte aber die Arbeit, der Volkspolizist fasste nichts an, der machte die Arbeit. Und so hat der Bürger, also mein Buch reingeschummelt ins Paket, und als das rauskam: "Das dürfen Sie aber nicht behalten!" "Ich will aber!" "Nein, nein, das dürfen Sie nicht behalten, das geht zu den - im schönsten Sächsisch - das geht zu den Effekten!" So. Und jetzt kommt der große Witz: Den Zettel musst ich selber schreiben: Zu Effekten Häftling Nummer 3609. Das war meine Häftlingsnummer: Zwei Notizbücher. 1953 wird Wolfgang Völzke entlassen. Und als ich entlassen wurde, kriegte ich das wieder ausgehändigt und nun in West-Berlin wartete in dem Sinne falsch, aber traf ich dann einen ehemaligen Mithäftling, einen Wenzlaw, den Vornamen kenne ich schon nicht mehr. Der hat Karikaturen gemacht. Er nannte sich in den Karikaturen "der Bär", glaube ich, oder so etwas. Davon habe ich auch noch eine Zeitschrift, von dieser Zeit damals. Der hat so antisowjetische Karikaturen gemacht, und der nahm mich gleich unter seine Fittiche, und ist am zweiten, dritten Tag nach meiner Entlassung mit mir zur "Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit" gefahren. Und da wurde das aufgeschnitten und da sind die Totenlisten dann verblieben mit dem Vermerk: Wir machen uns Kopien, und die Originale oder umgekehrt, die kommen dann zum Roten Kreuz.

Der Pfleger kam eines Tages auf den Gedanken, wir müssen die Totenlisten abschreiben. Die Totenlisten waren in einem Buch und zwar die Namen in Deutsch und in Russisch, so etwa über vierhundert schafften wir und das nannten wir dann "die Totenlisten".

Biografie

Wolfgang Völzke ist 1946 ein Oberschüler, der die neuen Chancen der Nachkriegszeit nutzen will. Er liebt und er schreibt Gedichte. Umtriebig, wie er ist, gründet er einen erfolgreichen Jugend-Literaturzirkel, doch dass der sich der FDJ

Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) war der einzige staatlich zugelassene Jugendverband der DDR und verstand sich als „Kampfreserve der Partei“ der SED. Seine Kennzeichen waren blaue Hemden und Blusen sowie das Emblem der aufgehenden Sonne. Die große Mehrheit der Jugendlichen war Mitglied der FDJ. Der Zugang zu weiterführender Schulbildung sowie die Chancen bei der Berufswahl waren meistens von der Mitgliedschaft abhängig.  

unterordnen soll, das stört ihn. Er will sich nicht vereinnahmen lassen und sagt das auch. Kurze Zeit später wird er von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet. Nach wochenlangen Verhören wird er ohne Urteil als Internierter ins Speziallager

Das sowjetische Volkskommissariat für Inneres (NKWD) richtete von 1945 bis 1950 in der SBZ/DDR insgesamt zehn Speziallager ein. Anfangs sollten hier nach Kriegsende vorrangig ehemalige Funktionsträger des NS-Staates inhaftiert werden. Gleichzeitigt dienten die Lager zur Zwangsrekrutierung von in der Sowjetunion benötigten Arbeitskräften. In der Folgezeit wurden hier jedoch mehr und mehr Personen festgehalten, die als Gefahr für die Besatzungsmacht oder für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung angesehen wurden.

nach Sachsenhausen

Im August 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, internierte der sowjetische Geheimdienst nichtverurteilte deutsche Zivilisten im ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1946 war die Zone II des Lagers Haftort für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT). Insgesamt waren bis 1950 in diesem Lager 60.000 Menschen inhaftiert. In dieser Zeit starben 12.000 an den Haftbedingungen. Das Lager wurde im Frühjahr 1950 aufgelöst.

gebracht.

Dort hat er das Glück, in verschiedenen Bereichen arbeiten zu dürfen, in der Krankenbaracke, der Gärtnerei, bei der Feuerwehr und zeitweise in der Theatergruppe des Lagers. Im Lazarett schreibt er heimlich die Namen aus dem Sterberegister ab. Diese Totenlisten zu führen ist sehr gefährlich und Völzke muss sie immer wieder neu verstecken. Auch als er kurz vor der Auflösung des Lagers in den Karzer kommt, gelingt es ihm, die Listen zu retten.

Obwohl er nie verurteilt wurde, kommt Völzke 1950 nicht frei, sondern ins Zuchthaus Waldheim

Im Zuchthaus Waldheim (Sachsen) wurden 1950 mehr als 3.000 ehemalige Häftlinge aus sowjetischen Speziallagern als mutmaßliche NS-Verbrecher von der DDR-Justiz in den „Waldheimer Prozessen“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und 23 Todesurteile ausgesprochen.

. Dort wird er im Rahmen der berüchtigten Waldheimer Prozesse zu acht Jahren Haft verurteilt. Dass er die Sachsenhausener Totenlisten auch ins Gefängnis schmuggeln kann, grenzt an ein Wunder. Als er dort in der Buchbinderei arbeitet, kann er sie in zwei Bucheinbänden verstecken und diese mit einem Trick zu seinen Effekten schleusen. Nach der Haftentlassung 1953 bringt er sie nach West-Berlin

West-Berlin war der von den West-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besetzte westliche Teil Berlins. West-Berlin war umgeben von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR. Seit 1961 riegelte die Berliner Mauer mit tödlicher Grenzanlage Ost-Berlin ab.

. Dort werden sie dem Roten Kreuz übergeben und endlich können die Angehörigen benachrichtigt werden.